Kerstin Gier 2
konnte nicht mehr gut spielen, ihre Finger waren zu steif. Und sie hatte Katzendrops für Rosine in einer Porzellandose auf der Fensterbank im Wohnzimmer stehen.« Es klang traurig, und Tobias ertappte sich dabei, dass er sich schuldig fühlte, weil er weder ein Klavier besaß noch die Absicht hegte, Katzendrops anzuschaffen.
»Dafür hat Tobias superschöne Möbel. Und es ist kaum zu glauben, dass er erst gestern eingezogen ist. Es ist alles schon perfekt eingerichtet. Kein Wunder, dass er keine Hilfe braucht.«, sagte Annika bewundernd, und Tobias fühlte einen Hauch von Stolz.
»Na ja, es gibt schon noch einiges zu tun. Freut mich, dass Ihnen, äh, dir die Möbel gefallen. Sie sind ganz neu«, rutschte es ihm heraus. Immerhin konnte er den Nachsatz Und sie waren verdammt teuer noch rechzeitig herunterschlucken.
»Unsere Möbel sind schon alt. Älter als Rosine. Bestimmt so alt wie Tante Schuhmann war, oder, Mama?«
»Och, ein paar sind auch neuer«, sagte Annika, und dann verabschiedeten sich die beiden, und Tobias konnte sich in Ruhe seiner neuen Wohnung widmen.
Seit dieser Episode waren drei Monate verstrichen, in denen sich Finn an Tobias’ Fersen geheftet hatte, und Tobias konnte noch nicht einmal behaupten, dass ihn diese Entwicklung überraschte, Finns Talent zur Klette war offenkundig gewesen. Dazu kam, dass der Sommer besonders schön war in diesem Jahr, und der große Garten mit seinen alten Bäumen allen Mietparteien im Haus zur Verfügung stand. De facto nutzten aber nur der Physiklehrer aus dem zweiten Stock, Tobias, Annika und Finn und die Katze Rosine das Grundstück, die anderen Mieter waren in der glücklichen Lage, einen nach Westen ausgerichteten Balkon ihr Eigen zu nennen, um den Tobias sie heftig beneidete. Auf einem Balkon schwebte man über den Dingen und man konnte abends in Ruhe ein Glas Wein trinken und lesen, ohne dass eine dünne, altersschwache, schwarze Katze sich neben den Liegestuhl ins Gras legte und so laut schnurrte, dass es nicht zu überhören war, oder dass Finn aufkreuzte, sich neben die Katze setzte und Tobias an den Ereignissen seines Tages teilhaben ließ. Da Tobias kein Unmensch war, verscheuchte er weder die Katze noch Finn. Er ließ die Katze schnurren und den Jungen reden, während er die Augen auf seine Zeitschrift oder sein Buch gerichtet hielt. Ab und zu machte er hmhm oder trug sogar selbst etwas zur Unterhaltung bei. Nach maximal einer Viertelstunde verschwand Finn wieder.
Annika war auch oft im Garten, hielt aber Abstand, was Tobias nicht erwartet hatte. So, wie sie an dem Sonntag nach seinem Einzug rübergekommen war, war er davon ausgegangen, dass es Einladungen zum Kaffee oder zu einem Glas Wein hageln würde und sie jede Gelegenheit für einen nachbarlichen Schwatz nutzen würde. Aber Annika grüßte nur freundlich und wünschte Tobias einen schönen Tag, einen schönen Abend oder eine gute Nacht, je nachdem, um welche Uhrzeit man sich über den Weg lief.
Nachdem Tobias eine Weile in den Genuss von Finns Besuchen gekommen war, war er sich sicher, dass der Steppke von seiner Mutter die Anweisung erhalten hatte, ihn nicht länger als fünfzehn Minuten zu vereinnahmen. Zu seiner Überraschung ließ ihm die Sache keine Ruhe, er wollte wissen, ob er Recht hatte. An einem heißen, windstillen Abend, als Annika lesend auf ihrem Lieblingsplatz unter dem alten Birnbaum saß, blieb Tobias auf dem Weg zu seinem Liegestuhl stehen und sagte: »Hallo, Annika. Wunderschöner Abend heute!«
»Oh, hallo, Tobias. Ja, wirklich. Ich mag es, wenn es so heiß ist, von mir aus könnte das ganze Jahr lang Sommer sein.« Sie sah ihn neugierig an, es war ihr anzusehen, dass sie sich fragte, was der sonst so zugeknöpfte Nachbar wohl von ihr wollte.
»Und wie geht’s dir so?«, erkundigte sich der zugeknöpfte Nachbar verlegen.
Sie ließ sich eine Weile Zeit, bis sie antwortete: »Von der ein oder anderen komplizierten Baustelle in meinem Leben abgesehen – gut.«
Tobias, dem nie eingefallen wäre, das Wort ›Baustelle‹ im Zusammenhang mit einer Frage zu verwenden, auf die jeder Mensch, der nicht aus dem allerletzten Loch pfiff, gefälligst mit einem schlichten »Danke, gut!« zu antworten hatte, erkundigte sich nun nach Finns Wohlergehen.
»Finn geht’s gut, er verbringt das Wochenende bei seinem Vater. Magst du dich vielleicht hinsetzen? Ich kriege Genickstarre, wenn ich so zu dir hochschauen muss.«
»Ich möchte nicht stören.«
Sie lächelte ihn an und schob
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