Kesseltreiben
sangen und schwenkten ihre Transparente: »Atomkraft: Nein danke«, »Weg mit dem Schnellen Brüter«. Aber alle Läden und Kneipen am Marktplatz hatten ihre Schaufenster mit Brettern vernagelt, und Hunderte von Bullen waren überall und Stacheldraht – es sah tatsächlich nach Krieg aus. Man redete von Absperrketten. Dann wurde bekannt gegeben, dass es auf der Wiese am Brüter keine Demo geben würde, das wäre jetzt verboten.
Jemand erzählt mir, dass in den Bussen, die immer noch aus der ganzen Bundesrepublik eintreffen, Waffen gefunden wurden.
Wo ich hinschaue, Menschen. Einer verkündet, dass wir schon über zwanzigtausend sind. Ich treffe welche aus Hamburg, Münster, Nürnberg und sogar aus Berlin, und sie erzählen, dass sie schon in ihren Städten beim Einsteigen in die Busse durchsucht worden sind und dann noch mal unterwegs.
Auf dem Podium reden ununterbrochen wichtige Leute, warnen vor Kernkraft, vor Plutonium, vor der Verseuchung, vor dem fahrlässigen Tod.
Ein paar Spinnerfangen an, die »Internationale« zu singen und andere Kampflieder, so laut, dass man die Redner gar nicht mehr hören kann. Sie schwenken rote Fahnen.
Aber dann sind da auf einmal die Holländer, unsere Freunde, mit denen wir schon so lange zusammenarbeiten, und fangen an, witzige Lieder zu singen, und alles wird wieder ruhiger.
Plötzlich, so gegen zwei Uhr, sind keine Bullen mehr zu sehen, nirgendwo mehr, was auch unheimlich ist. Dafür kreisen jetzt Hubschrauber über uns. Total unwirklich.
Wir beschließen, einen Sitzstreik zu machen, wenn sie uns nicht auf die Wiese am AKW lassen.
Aber dann um halb fünf geht der Marsch auf den Brüter doch noch los.
Immer noch sind keine Bullen zu entdecken, aber dafür welche, die nach Randale aussehen. Sie sind alle ganz in Schwarz, und sie machen mir Angst. An der Appeldorner Straße haben die Bullen eine Containersperre errichtet, sie selbst lassen sich immer noch nicht blicken. Wir hier aus der Gegend gucken uns an, wir sehen die roten Fahnen und die schwarzen Klamotten und denken an Brokdorf und Gorleben. Das will keiner von uns.
Die Chaoten beschimpfen uns, aber wir drehen trotzdem um und gehen zurück zum Marktplatz. Die anderen umgehen die Barrikade und marschieren weiter auf den Brüter zu. Wir schnappen uns unsere Räder und machen uns auf in Richtung Heimat.
Als wir endlich wieder auf dem Hof waren, war es schon fast zehn Uhr, und wir waren alle kaputt.
Die anderen sind sofort ins Bett gegangen, aber ich war viel zu aufgedreht und habe auf die Zeitung gewartet. Und da stand, dass die Demo entgegen allen Erwartungen friedlich geblieben ist. An die fünfzigtausend Menschen waren gekommen, die gegen Kernkraft protestiert haben. Das muss man sich mal vorstellen: fünfzigtausend! Das zählt doch wohl. Und wir machen weiter. Und wir werden es schaffen, dass dieser Brüter nicht ans Netz geht und dass in unserem Land nie wieder ein Atomkraftwerk gebaut wird!
Heute Mittag war ich bei meinem alten Chef um ihn zu fragen, ob er uns vom Großmarkt Zucker und Öl mitbringen kann, da steht plötzlich seine Alte vor mir und sagt: »So was wie dich hätte man vor vierzig Jahren vergast.« Ein Gesicht wie eine Zitrone, Lodenmantel, Trachtenhut mit Feder, Goldfasan. Kam Hitler nicht aus Österreich ? Unser Land wird zu einem Atomstaat, und ein Atomstaat ist ein Nazistaat.
Kai ist nur noch zugedröhnt, er kriegt nichts mehr gebacken. Ich hab ihn aus meinem Zimmer rausgeschmissen, er schläft jetzt in der Knechtkammer über dem Stall. Mir egal, der kriegt ja sowieso nichts mehr mit.
Volker schleppt dauernd irgendwelche Weiher an, die sich dann wochenlang hier einnisten und keinen Handschlag tun.
Und schon wieder sind uns alle möglichen Lehensmittel ausgegangen, und keiner hat es gemerkt.
Ich finde es scheiße, dass immer alles an mir hängen bleibt, und deshalb hatte ich gestern Abend eine Krisensitzung einberufen und ihnen meine Meinung gegeigt. Die haben vielleicht Gesichter gemacht! Kai ist sofort aufgesprungen. »Ich hab keinen Bock auf so ‘ n Stress. Da hätte ich ja auch bei meinen Alten bleiben können.« Und weg war er.
Die anderen waren aber ganz vernünftig, und wir haben zusammen einen Arbeitsplan erstellt. Wenn das alles so klappt, habe ich tatsächlich mal ein bisschen Freizeit.
Ich nehme die Pille nicht mehr. Ich habe einfach keine Lust, mir jeden Tag Chemie einzuwerfen und immer molliger zu werden für nichts und wieder nichts.
Mit Kai läuft gar nichts
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