Kim Schneyder
sondern auch das ihrer falschen Wimpern zu schaffen. Die folgen nur widerwillig ihrem Augenaufschlag, als sie jetzt überrascht zu mir hochblinzelt, und dann sagt sie etwas auf Französisch, was ich in Kombination mit ihrem Gesichtsausdruck als erleichterte Zustimmung deute.
Schön, dann wollen wir mal sehen. Ich stemme die Hände in die Hüften und schätze mit einem schnellen Blick die Lage ein. Der Rollwagen mit dem Koffer ist offensichtlich megaschwer, der Steg dagegen, der von der Jacht herüberragt, ist aus Holz und überdies nicht gut befestigt. Für die Lösung dieses Problems muss man also gar kein besonderes Genie sein. Ich recke siegessicher beide Daumen in die Höhe, dann bücke ich mich und schiebe kurzerhand den Steg zur Seite.
Die alte Dame macht erstaunte Augen, als sie sieht, wie einfach das war, und dann lächelt sie. So, jetzt bin ich aber gespannt. Mir ist nicht entgangen, dass sie vorhin von einer wirklich großen Jacht heruntergekommen ist, und jetzt wird sie sich sicher erkenntlich zeigen für meine selbstlose Rettungsaktion. Für reiche Menschen wie sie gelten ja bekanntlich andere Maßstäbe als für unsereins, und es würde mich nicht überraschen, wenn ich jetzt eine Einladung auf ihr Familienanwesen bekäme, oder vielleicht überlässt sie mir einfach ihren Riesenklunker, den sie um den Hals trägt?
»Merci beaucoup, Mademoiselle!«, unterbricht sie stattdessen meine Gedanken, dann rattert sie mit ihrem Fuhrwerk davon, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.
Wie bitte? Ein mickriges Dankeschön, und das war’s dann? Ich fühle, wie meine Kinnlade herunterklappt. Na, vielen Dank auch. Das ist wieder mal so typisch. Da rackert man sich für einen Menschen ab und hilft ihm aus einer echten Klemme, und was bekommt man dafür? Nichts, absolut gar nichts.
Verärgert starre ich ihr nach, in der vagen Hoffnung, dass sie sich doch noch besinnt und auf einmal umdreht. Aber die alte Dame denkt gar nicht daran, im Gegenteil, sie trippelt mit erstaunlicher Geschwindigkeit davon, wahrscheinlich um vor ihrem Chauffeur damit anzugeben, wie gut sie noch in Schuss ist und dass sie es ganz alleine geschafft hat, das schwere Teil bis zu ihrem Wagen zu bewegen.
Die Vorstellung bringt mich so in Rage, dass ich den Karton, der im selben Moment über das Heck der Jacht auf mich zuschwebt, gar nicht wahrnehme.
Sekunden später reißt mich ein markerschütternder Schrei aus meinen Gedanken. Ich fahre erschrocken herum und sehe gerade noch, wie der Karton eine ruckartige Bewegung vollführt, sich in der Luft überschlägt und dann direkt vor meinen Füßen landet.
Nanu, wo kam der denn auf einmal her? Bevor ich mir noch einen Reim darauf machen kann, entdecke ich auch den Mann. Er dürfte den Karton getragen haben, und dabei ist er anscheinend so leichtsinnig gewesen, darauf zu vertrauen, dass der Steg immer noch an der selben Stelle liegt wie vorher und nicht etwa von einer hilfsbereiten Fee zur Seite geräumt wurde, um einer gebrechlichen alten Dame den Weg zu ihrem Rolls Royce frei zu machen. Er hat die Augen panisch aufgerissen und balanciert noch verzweifelt auf einem Bein, doch als sich unsere Blicke treffen, wissen wir beide, dass er diesen Kampf längst verloren hat. Wie in einer unwirklichen Superzeitlupe kippt er zur Seite, und als er nach einer gefühlten Ewigkeit auf dem Wasser aufschlägt, fällt sofort auf, dass der Mann kein Turmspringer sein kann, denn er taucht auf derart unprofessionelle Weise ein, dass eine gewaltige Fontäne hochsteigt und sich über meine Beine ergießt, ehe ich zur Seite springen kann.
Oha. Sieht ganz so aus, als hätte ich den Mann mit meiner unbedankten Hilfsbereitschaft soeben in die Untiefen des Mittelmeeres befördert. Es durchläuft mich siedendheiß. Gleich wird ein Donnerwetter auf Französisch kommen. Am besten mache ich mich vom Acker, bevor …
»Verdammte Scheiße!«, tönt es im selben Moment vom Wasser hoch. Nanu, das war doch Deutsch . Habe ich etwa einen Landsmann versenkt? Vorsichtig wage ich mich an den Rand des Piers heran und riskiere einen Blick.
Ich sehe einen Mann mittleren Alters, prustend und spuckend und wassertretend, der mich aus weit aufgerissenen Augen anstarrt. Und jetzt bin ich schon wieder die Retterin in der Not, bereits zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten.
»Kann ich Ihnen helfen?«, frage ich und komme mir dabei ein bisschen vor wie Pamela Anderson in Baywatch .
»Ja, können Sie«, hechelt er. »Springen Sie auf
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