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Kinder der Ewigkeit

Kinder der Ewigkeit

Titel: Kinder der Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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und zog die Datentafel heran.
    Evan Ten-Ten drehte das fünfhunderttausend Jahre alte Artefakt einige Male hin und her, legte es dann beiseite und näherte sich Sheela so leise, dass sie selbst dann nichts gehört hätte, wenn sie wachsam gewesen wäre. Eine dünne Klinge kam unter dem rechten Unterarm hervor, etwa fünfundzwanzig Zentimeter lang und an der Spitze nur wenige Nanometer dick. Sheela summte leise vor sich hin und ahnte nichts, als er sich ein wenig vorbeugte und die Klinge dicht über dem Nacken in ihren Hinterkopf stieß, von unten nach oben. Im Innern des Schädels entwickelte sie eine Temperatur von zehntausend Grad und ließ die zentralen Teile des Gehirns verdampfen. Das machte eine Rückkehr ins Leben unmöglich, selbst wenn man die Leiche rechtzeitig gefunden und vor Ablauf der siebenstündigen Frist eine Rekonversion durchgeführt hätte. Sheela war tot, für immer.
    Evan Ten-Ten zog die Hand zurück. Der größte Teil der Klinge war in Sheelas Kopf verglüht; nur ein kleiner Stummel verblieb an seinem Unterarm.
    Langsam trat er um die Leiche herum und blickte in die offenen Augen, in denen das Licht des Lebens erloschen war. Hatte sie ihn geliebt?, fragte er sich. Hatten die vergangenen Monate genügt, um in ihr ein so starkes Gefühl zu schaffen?
    Als sich fast so etwas wie Bedauern in ihm regte, schaltete er in einen anderen mentalen Modus mit beschränkter emotionaler Bandbreite um. Mit seinen Erweiterungen schaute er in den Körper und vergewisserte sich, dass für eine Rekonversion tatsächlich nicht genug übrig geblieben war. Dann hob er die Leiche hoch – die kleine, zarte Sheela wog nicht viel –, trug sie zur nahen Öffnung im Boden und ließ sie in den Schacht fallen. Mit einigen raschen Schritten kehrte er zum Schreibtisch zurück, nahm die Datentafel und steckte sie ein, nachdem er überprüft hatte, dass es die richtige war – sie enthielt alle bisherigen Forschungsberichte und auch die Dateien mit den Bildern und detaillierten Untersuchungsergebnissen. Damit hatte er die beiden wichtigsten Forderungen seines Auftraggebers erfüllt: Er sollte sich persönlich um Sheelas Ableben kümmern und ihren Tod keinen ferngesteuerten Waffen oder Fallen überlassen; und er sollte die Ergebnisse ihrer Arbeit an sich bringen und am vereinbarten Ort hinterlegen.
    Bevor Evan das Gebäude verließ, nahm er Sheelas Codeschlüssel aus dem Schreibtisch. Ihre Biosignatur besaß er schon seit Monaten, aus Haaren und Schweiß gewonnen und sorgfältig zu der Art von genetischem Kondensat verarbeitet, wie es auf vielen Welten der Tausend Tiefen zur Identifizierung verwendet wurde. Zusammen mit dem Schlüssel konnte er die beiden Backups löschen, die Sheela von ihrer Existenz erstellt hatte. Es gab nur zwei, das jüngste vor anderthalb Echtjahren und das andere vor zehn. Vollständige Auslöschung. Nicht einmal extern gespeicherte Erinnerungen sollten zurückbleiben; so wollte es der Auftraggeber.
    Evan Ten-Ten trat nach draußen und wusste, dass man Sheelas Leiche während der nächsten beiden Stunden nicht finden würde. Diese Zeit am Abend gehörte ihnen; das respektierten die anderen Archäologen und ihre Assistenten.
    Nur eine Stunde später blieb Mway unter ihm zurück. Als Wyron Wironer, dem man bald einen Mord zur Last legen würde, hatte er die Ausgrabungsstätte verlassen, und als Evan Ten-Ten flog er zum Filigran des Laurole-Systems. Er hatte zum siebten Mal getötet, um sich selbst dem ewigen Leben näher zu bringen.

 
9
     
    Oxnam, Perle unter den Welten, ein glitzerndes Kleinod, das auf dem schwarzen Samt des Alls ruhte wie im Schaukasten eines kosmischen Juweliers. Eine Welt der Ozeane und Archipele, der Inseln und weißen Strände, der lauen Winde und prachtvollen Sonnenuntergänge. Eine Welt, die der Seele Gelegenheit gab, jeden Ballast abzulegen und einfach nur zu sein . Oxnam war eine Welt der Seelen, denn wegen des nahen Filigranknotenpunkts gab es hier eins der größten Archive der Tausend Tiefen, nicht nur für Informationen aller Art, sondern auch für gespeicherte Leben und Lebensabschnitte. Das mochte auch der Grund dafür sein, warum Oxnam noch zu den Tausend Tiefen gehörte und nicht zu einer der Hohen Welten geworden war, zur zweiundzwanzigsten, obwohl sich einige Erlauchte Domizile auf dem Planeten eingerichtet hatten: Es gab zu viel Verkehr. Millionen reisten durch das Filigran, das direkten Zugang zu den meisten Welten der Tausend Tiefen erlaubte und sogar eine

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