Kinder der Nacht
Spuren von Wintersportanlagen, wo die Taue und vereinzelte T-Masten eines ›Skilifts‹ zu sehen waren, sowie ein neues, größeres Stadtviertel mit Mietskasernen aus der Stalinzeit und Schwerindustrie, die das Tal verpestete.
Aber die Landschaft oberhalb der Stadt ließ sich durch sozialistische Häßlichkeit nicht beeinträchtigen. Auf beiden Seiten von Sinaia und der vielbefahrenen Autobahn 1, die durch die Stadt führte, ragten die Bucegi-Berge als fast groteskes Relief auf, wobei die Gipfel einzelner Bergspitzen zweitausendeinhundert Meter erreichten. Kates Haus - ihr Ex-Haus - in den Vorgebirgen über Boulder lag zweitausendeinhundert Meter hoch, und die Rockies im Westen erreichten Höhen bis zu viertausendzweihundert Metern, aber die Bucegi-Berge wirkten weitaus dramatischer und ragten fast senkrecht aus dem Tal des Flusses Prahova, das nicht weit über Meereshöhe lag, empor. Das Ergebnis, fand Kate, die aufsah, während sie das Motorrad durch den Lastwagenverkehr steuerte, der aus einem Stahlwerk kam, war eine Gebirgslandschaft, wie Bierstadt, der Maler des neunzehnten Jahrhunderts, die Rockies gern gesehen hätte: vertikal, zerklüftet, die Gipfel in Wolken und Nebel verschwunden.
Kate war schon einmal in den Schweizer Alpen gewesen, aber die Kulisse hier konnte es mit allem aufnehmen, was sie dort gesehen hatte. Nur die grauen Gestalten, die am Straßenrand entlangschlurften, die leerstehenden Geschäfte, die verfallenen Anwesen, die baufälligen Mietskasernen und die schmutzigen Industrieanlagen, die schwarzen Rauch in die Berge bliesen, erinnerten sie daran, daß sie sich in einer Umgebung befand, die kein Schweizer, der etwas auf sich hielt, auch nur eine Stunde lang ertragen hätte.
Es gab keine Tankstelle in Sinaia, daher fuhr Kate weiter zum dreißig Meilen nördlich gelegenen Braşov. Die Straße führte am Fluß entlang, auf beiden Seiten Felswände und atemberaubende Panoramen. Aber Kate hatte keine Augen für die Aussicht. Als der Schwerverkehr spärlicher wurde, nahm sie das Gas zurück, damit sie sich verständlich machen konnte. »O'Rourke«, rief sie. Als er aus seinem Nachdenken aufsah, fuhr sie fort: »Warum traust du Lucian nicht?«
Er beugte sich näher zu ihr, als sie an einer geschlossenen byzantinischen orthodoxen Kirche vorbeiholperten und der Autobahn um eine lange Biegung des Flusses folgten. »Anfangs war es nur ein Instinkt. Daß etwas ... etwas nicht stimmt.«
»Und dann?« sagte Kate. Auch weiterhin quollen Wolken zwischen den Bergen im Westen hervor, aber ab und zu beleuchteten Sonnenstrahlen das Tal und den schmalen Fluß.
»Und dann überprüfte ich etwas, als ich wieder in den Vereinigten Staaten war. Bevor ich nach Colorado ging ... und bevor ich dich dort im Krankenhaus besucht hatte. Weißt du noch, wie du mir gesagt hast, Lucian hätte sein fließendes Englisch bei Besuchen in den Staaten gelernt? Als er mit seinen Eltern dort war?«
Kate nickte und wich einem Zigeunerwagen und einer kleinen Schafherde aus. Sie scherte gerade wieder auf die rechte Fahrspur ein, als ein Holzlaster in der entgegengesetzten Richtung vorbeidonnerte. Es dauerte eine halbe Meile, bis sie dessen blaue Abgaswolken hinter sich gelassen hatten. »Und?« sagte sie.
»Ich habe das Büro meines Freundes in Washington angerufen - Senator Harlen aus Illinois, du erinnerst dich? -, und Jim hat versprochen, das für mich zu überprüfen. Die Visaunterlagen durchsehen und so weiter. Aber er hat sich nicht mehr gemeldet, bevor wir beide nach Rumänien aufgebrochen sind.«
Kate verstand nicht. »Also hast du nichts erfahren?«
»Ich habe ihn gebeten, die Botschaft in Bukarest zu verständigen, wenn er die Unterlagen gefunden hat, damit sie die Nachricht im Hauptsitz der Franziskaner in Bukarest hinterlassen können«, brüllte O'Rourke über den Motorenlärm hinweg. »Sie hatten die Nachricht, als ich gestern morgen mit Pater Stoicescu gesprochen hatte. Am Morgen, nachdem uns Lucian die Leichen seiner Eltern und das Ding im Tank in der Medizinischen Fakultät gezeigt hat.«
Kate sah ihn an, sagte aber nichts. Vor ihnen wurde das Tal breiter.
»Die Visaunterlagen beweisen, daß Lucian die Vereinigten Staaten viermal in den letzten fünfzehn Jahren besucht hat. Beim ersten Mal war er zehn. Das letzte Mal war im Herbst 1989, vor zwei Jahren.« O'Rourke verstummte einen Moment. »Er war nicht ein einziges Mal mit seinen Eltern dort. Jedesmal kam er allein mit einem Stipendium der World Market and
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