Kinder der Nacht
er mit vor Heiterkeit überschäumender Stimme fort, »ich glaube, wir müssen uns jetzt voneinander verabschieden. Ich werde Sie heute abend sehen, ja, aber da werden viele Menschen dabeisein und Sie sind wahrscheinlich zu beschäftigt für ein Schwätzchen. Bye-bye.« Er schlug mit der Handfläche auf das Autodach, der andere Strigoi -Schurke nahm neben ihr Platz, so daß sie zwischen Ion und ihm mit seinem Knoblauchatem eingepfercht war; Radu Fortuna schlug die Tür zu, dann setzte sich der Mercedes in Bewegung, fuhr unter dem Torbogen der Mauer durch, bergab an Häusern vorbei, die schon im Mittelalter alt gewesen waren, und aus Sighişoara hinaus.
Sie bogen nach rechts auf eine schmale Landstraße ab. Kate sah an Ion vorbei und konnte das weiße Schild lesen: MEDIAŞ 36 KM, SIBIU 91 KM. Sie machte die Augen zu und versuchte, sich an die Karte zu erinnern, die sie und O'Rourke mehrere Tage lang benützt hatten. Wenn man die verschiedenen Autobahnen, die sie benutzt hatten, als ungefähren Kreis betrachtete und die Berge und zahlreichen Umwege unberücksichtigt ließ, dann stellte sie sich vor, daß sie im Gegenuhrzeigersinn unterwegs waren, wobei sich Bukarest als Ausgangspunkt in der Position sechs Uhr befand. Tîrgovişte lag nicht auf dem Umfang dieses Kreises, sondern direkt unterhalb des Mittelpunkts, wo die Zeiger befestigt waren. Braşov müßte sich dann in der Position drei Uhr befinden, Sighişoara bei zwölf und Sibiu irgendwo bei neun.
Wo lag dann das Schloß am Argeş? Irgendwo zwischen der Neun und Tîrgovişte in der Nähe der Mitte. Lag Sibiu an der Straße zum Schloß am Argeş? Unwahrscheinlich. Sie und O'Rourke mußten sich geirrt haben, als sie davon ausgegangen waren, Vlad Ţepeşs Schloß müßte eine Bedeutung für die Zeremonie haben. Ihr wahrscheinlichstes Ziel war Sibiu.
Wie viele Meilen, bis ich den Ort erreiche, wo ich sterben werde? Weniger als sechzig Meilen. Kate wischte sich die feuchten Handflächen an ihrem dunklen Rock ab. Plötzlich knurrte ihr Magen.
Ion sah sie an und konnte sein Grinsen nicht verbergen. »Ist das Frühstück nicht bekommen?«
Sie hatte kein Frühstück bekommen, und auch kein Essen am vergangenen Abend. Kate versuchte sich an das letzte zu erinnern, das sie gegessen hatte, und die Erinnerung an die Schokoladenkekse, die sie sich mit den beiden Frauen Ana und Marina geteilt hatten, machte sie schwindlig vor Übelkeit.
Heute waren kaum andere Autos auf der Straße unterwegs, und die wenigen wurden fast von der Fahrbahn abgedrängt, wenn der Strigoi -Fahrer hupte und mit für die unebene und kurvige Straße halsbrecherischer Geschwindigkeit überholte. Der Mercedes bremste nur für Tiere, aber selbst die Schafherden wurden in alle Winde zerstreut.
Kate überlegte sich, daß die Landschaft von Transsilvanien, die so schnell an ihr vorbeirauschte, im Sommer wunderschön sein müßte: grüne Hochwiesen, dichte Wälder, die in Gefilde reichten, wo keine Straßen verliefen, verfallende Abteien auf Bergkuppen, die Zwiebeltürme orthodoxer Kirchen in winzigen Ortschaften am Fluß entlang, und die bunt gekleideten Bauern und Zigeuner auf den Feldern. Aber schon jetzt, im Oktober, lag die schwere Last des Winters wie ein Grauschleier über dem Land. Die Bäume waren schwarze Streifen vor grauem Fels, die Bauern schlurften mit gesenkten Köpfen am Straßenrand entlang oder sahen mit grauen Gesichtern aus schlammigen Feldern, und die wenigen Dörfer schienen Stilleben mit grauem Stein und schwarzem Holz zu sein.
Der Fahrer und der junge Strigoi neben ihr rauchten beide, und das Auto schien keine Lüftung zu haben. Sie konnte den Geruch nach Schweiß und Urin der Männer riechen, und der Knoblauchgestank des jungen Mannes rechts von ihr schien mit jeder Meile schlimmer zu werden. Während der ganzen Fahrt wurde nicht ein Mal geschwiegen. Der Fahrer sprach den ganzen Weg entweder mit Ion oder dem jungen Mann, alle redeten so schnelles Rumänisch, daß sie kein Wort verstand. Sie lachten ständig. Manchmal bemerkte sie, daß sie sie kurz vor oder nach einer Lachsalve ansahen. Auch wenn sie die Worte nicht verstand, kannte sie Tonfall und Arroganz nur zu gut: es war die großspurige Selbstsicherheit eines nicht übertrieben intelligenten männlichen Schlägers in Gegenwart einer Frau, die er unter seiner Kontrolle hatte. Kate hatte denselben Tonfall, dieselben lüsternen Seitenblicke und dasselbe Gelächter als Mädchen in Gegenwart älterer Jungs, als Studentin
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