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Kinder des Feuers

Kinder des Feuers

Titel: Kinder des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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zählen. Seit vielen Wochen waren sie nun wohl schon unterwegs, schienen auch nicht länger westwärts zu ziehen, wie sie zunächst gedacht hatte, sondern sich im Kreis zu drehen. Zumindest waren sie oft schon an derselben Stelle vorbeigekommen, und in ihr war die Erkenntnis gereift, dass nicht nur sie eine Gefangene war, sondern Hasculf und die seinen Getriebene, die nicht selbst ihren Weg bestimmen konnten, sondern Feinden ausweichen mussten.
    Jene Feinde blieben unsichtbar – nur manchmal stießen sie auf Spuren oder hörten in der Ferne Stimmen und Schritte. Rasch versteckten sich Hasculfs Männer dann hinter Bäumen oder im Gebüsch. Wenn die Gefahr ausgestanden war, hockten sie tuschelnd ums Feuer, machten finstere Gesichter und warfen ihr vorwurfsvolle Blicke zu, als sei sie allein schuld an ihrem Ungemach. Anfangs fühlte Mathilda sich unter diesen Blicken unbehaglich, später ließ sie sie über sich ergehen.
    Sie hatte auf ihren Tod gewartet – doch sie lebte noch. Sie hatte damit gerechnet, dass sie bald das Ziel ihrer Reise erreichten, doch sie kamen nicht an. Irgendwann war ihr gleichgültig, was geschah. Sie vermeinte, in ein Niemandsland jenseits aller Zeit geraten zu sein, wo Entschlossenheit ins Leere läuft und jedes Ziel unerreichbar bleibt, wo man zurückgeworfen wird auf das, was vom Menschen bleibt, wenn all die Gefühle erlöschen, die ihn vom Tier unterscheiden – ein Wesen, das Schritt vor Schritt setzt, weil es das kann, nicht weil es das will.
    Irgendwann stießen sie doch auf ein Stückchen Land, das sie noch nicht durchquert hatten. Die Bäume standen hier lichter und gaben den Blick auf die Küste frei. Mathilda war das Meer nicht fremd, doch diese Wellen schienen ein anderes Lied zu singen als jene, die das Leben in Sainte-Radegonde begleitet hatten. Hungriger und unermüdlicher klatschten sie auf die Felsen. Der Wind peitschte ihr die Haare ins Gesicht, ließ sie erschaudern, vertrieb jedoch die Dumpfheit. In den letzten Tagen hatte sie sich kaum von einem gefesselten Schaf unterschieden, das man zum Schlachter bringt. Jetzt erwachte die Angst vor der Zukunft – und mit ihr die Erinnerung an die Vergangenheit.
    Sie wusste: Sie war in der Bretagne, sie war in ihre Heimat zurückgekehrt, und wenn die Küste hier auch nicht vertraut war, so war es doch möglich, dass sie nur ein wenig weiterziehen müssten, bis der Himmel aufreißen würde und die Sonne ihr Licht auf die Blumenwiese vor ihnen warf, bis sie, wenn auch keinem blonden Mann, so doch einer hilfreichen Seele begegnen würde, die ihr die Fesseln löste und ihr die Angst vor dem Tod nahm. Und dann würde sie ein Lied in bretonischer Sprache singen.
    Noch war ihre Kehle zu trocken dafür und das Land zu rau. Noch war die Panik zu groß, dass sie – wenn sie jetzt sterben würde – auf ewig eine Frau bliebe, die ihr Leben nicht als Ganzes vor sich zu sehen vermochte, sondern nur einzelne Scherben, die nicht zusammenpassten.
    Sie erreichten die Küste, zogen den Strand entlang. Der Wind wehte ihr die Sandkörnchen ins Gesicht, die auf ihrer Haut prickelten. Das Licht blieb grau, der Boden unfruchtbar, und die irrwitzige Hoffnung, endlich die Blumenwiese zu sehen, erstarb. Ihr Geist blieb dennoch hellwach und die Erinnerungen lebendig. Nahezu herausfordernd starrte sie Hasculf an, als sie eine Rast einlegten und er ihr zu essen brachte. In dieser Umgebung, eigentlich fremd, tief in ihrem Herzen aber doch vertraut, sah sie nicht den rohen Mörder in ihm.
    »Weißt du, wer mein Vater war?«, fragte sie mit fester Stimme. »Er war ein mächtiger Mann, nicht wahr? Und du wagst es, so mit seiner Tochter umzugehen?«
    Er sah sie verwundert an, während in ihrem Kopf eine Stimme echote, die Stimme einer Frau, die nicht nur von ihres Vaters Macht kündete, sondern von dessen Bosheit: Dein Vater hat deiner Mutter Schreckliches angetan … Sie würde es leugnen, sie richtet ihren Hass allein auf … sie .
    Hasculf erhob sich wortlos und ging fort, sie schloss die Augen. In den letzten Tagen hatte sie oft vermeint, sie gingen im Kreis – nun war es die Welt, die sich drehte, während sie still stand. Mauras Gesicht tauchte vor ihr auf, Maura, die ihr sagte: Deinetwegen habe ich meine Mutter verlassen und dir ins Kloster folgen müssen, Maura, die an Alanus Schiefbarts Hof gelebt hatte, dem neuen Herrscher der Bretagne … einem Herrscher, dem sie gefährlich werden konnte … Maura, die in ihrem Auftrag kam.
    Welche Frau wollte ihren Tod

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