Kinder des Judas
ihren Retter nur undeutlich vor sich. Die Schwäche, die sie durch den Schuss in den Kopf und den enormen Blutverlust erlitten hatte, war noch lange nicht überwunden. Sie streckte die Hand nach ihm aus, sah das blaue Funkeln in der Perücke. Es war der Eleve, den sie damals schon vor den Toren von Gruža gesehen hatte!
»Ich habe nach Euch gesucht«, sagte sie erstickt und undeutlich. Der Geruch nach frischem Blut lenkte sie ab, ihr Körper verlangte nach noch mehr Stärkung. Scylla schlug die Zähne in den nächsten Leichnam, stöhnte und sog den noch warmen Lebenssaft in sich hinein. Sie bemerkte nicht, wie ihr Retter die nackte Haut, die unter ihrem Mantel herausschaute, betrachtete, wie er ihren bloßen Unterschenkel berührte, dabei die Augen schloss und erschauderte. Sie bemerkte auch nicht, wie er ging, als sie einen weiteren Toten an sich zog … und dann noch einen …
Satt und mit abklingenden Schmerzen wälzte sie sich auf den Rücken und sah zum Baldachin. Das Weiß der Augen hatte sich in Rot verwandelt, als würden die Pupillen auf Blut schwimmen. Vorsichtig betastete sie ihr Gesicht, den Kopf, die Schläfe auf der rechten Seite. Die Wunden waren verheilt.
»Marek«, flüsterte sie.
XI.
Kapitel
21. Dezember 2007
Deutschland, Sachsen, Leipzig, 00.23 Uhr
M
arek hatte mich in meinem Vorhaben bestärkt und zugleich neugierig gemacht: Was gab es in der Ruine der Mühle, das unbedingt entdeckt werden musste?
Ich reiße mich von der Geschichte los und sehe nachdenklich aus dem Fenster. Wie hatte Marek mich damals finden können? Ich lächle bitter. So, wie er mich auch jetzt wieder gefunden hat. Was für eine Ironie: Lange Zeit hielt ich Marek für meinen Schutzengel, und wann immer ich mich beobachtet fühlte, wähnte ich ihn in meiner Nähe und freute mich.
Ich war so naiv.
Damals zeigte er sich mir, nachdem er mich gerettet hatte, einige Jahre nicht mehr – ein Glück, auf das ich mich heute nicht mehr verlassen kann. Seufzend wende ich mich wieder dem Papier vor mir zu.
Das Schloss brannte noch an diesem Tag nieder, ich verbarg mich im Keller und flüchtete in der Nacht mitsamt all dem Gold und den Wertgegenständen, als deren rechtmäßige Erbin ich mich ansah
.
Es war nicht schwer, die Schätze zu verkaufen – und noch einfacher, mit meinem neuen Vermögen nicht nur das, was von der Mühle übriggeblieben war, sondern auch den Wald und die umliegenden Dörfer von den Türken zugesprochen zu bekommen. So fielen mir die Menschen, vor deren Vorfahren ich geflüchtetwar und die ich aus Rache vernichtet hatte, in die Hände. Sie waren mir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert
.
Bald erhob sich die Mühle von neuem über dem Wald, was die Menschen mit Misstrauen betrachteten. Ich beging nicht den Fehler, mich darin zu verschanzen, wie es mein Vater getan hatte. Die Leute ließ ich in dem Glauben, dass ich nur gelegentlich anwesend sei und die meiste Zeit in einem Schloss weit entfernt lebte. Außerdem stellte ich einen Müller ein, und die Mühle mahlte das Korn der Umgebung. Keiner wusste, dass die Stockwerke darunter zu meinem Reich geworden waren. Noch größer, noch weitläufiger als das meines Vaters
.
Die Minenarbeiter, welche die drei Ebenen sowie die Gänge, die bis unter den Wald reichten, neu für mich ausgruben, sie ausräumten und mit Stützpfeilern sicherten, ließ ich aus der Fremde kommen. Sie waren auch die Ersten, an denen ich meine alten Sezierkünste auf die Probe stellte, und zu meiner großen Freude stellte ich fest, dass ich sie noch immer beherrschte. Erneut gab ich mich ganz der Forschung und der Wissenschaft hin
.
Mareks Hinweis führte mich zu einem besonderen Schatz: In den Trümmern fand ich wirklich etwas, verborgene Aufzeichnungen meines Vaters – jedoch verschlüsselt. Und zwar so gründlich, dass ich den Kode nicht durchschauen und brechen konnte. So hatte ich gleich mehrere Probleme zu bewältigen
.
Nach drei Jahren hatte ich mir bei den Menschen auf meinem Land einen Ruf als Wohltäterin erarbeitet. Ich stiftete Geld für den Aufbau der von den Türken zerstörten Kirchen, kümmerte mich um die Kranken und Verwundeten und bezahlte so pünktlich meine Abgaben an die Besatzer, dass sie gar nicht auf den Gedanken kamen, sich meinem Land und meinen Leuten zu nähern
.
Während sie mich über der Erde feierten und hochleben ließen, schlitzte ich unter der Erde Bäuche auf, examinierteVerstorbene und führte die Arbeit meines Vaters fort. Gelegentlich
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