Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren
weiterleiten.«
»Nein, das ist prima«, sagte ich. »Irgendeine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?«
»Männlich und weiblich, je einmal«, meinte sie leichthin.
Als ich auf mein Zimmer kam, kickte ich meine Schuhe weg und rief Charlie Scorsonis Büro an und sprach mit Ruth.
»Er sollte gestern abend wieder eintreffen«, sagte sie. »Aber er hatte nicht vor, ins Büro zu kommen. Sie könnten es bei ihm zu Hause versuchen.«
»Nun, falls ich ihn da nicht erwische, würden Sie ihm bitte sagen, daß ich wieder in Los Angeles bin? Er weiß, wo er mich da erreichen kann.«
»Mach ich«, sagte sie. ‘
Die andere Nachricht war ein Bonus. Anscheinend war Garry Steinberg, der Prüfer von Haycraft und McNiece, ein paar Tage früher aus New York zurückgekehrt und bereit, sich am Freitagnachmittag — das war heute — mit mir zu unterhalten. Ich rief an, sprach kurz mit ihm und sagte, ich würde innerhalb der nächsten Stunde dort sein. Dann rief ich Mrs. Glass an und teilte ihr mit, daß ich kurz nach dem Abendessen zu ihr käme. Blieb noch ein weiterer Anruf, zu dem ich mich verpflichtet fühlte, so unangenehm es mir auch war. Ich saß einen Augenblick auf der Bettkante und starrte auf das Telefon, dann wünschte ich’s zum Teufel und wählte meinen Bekannten in Las Vegas.
»Jesses, Kinsey«, sagte er durch die Zähne. »Ich wünschte, du würdest mir das nicht antun. Ich liefere dir die Fakten über Sharon Napier, und das nächste, was ich höre — sie ist tot.«
Ich legte ihm die Situation so klar, wie ich konnte, aber seine Ängste schien es nicht zu beschwichtigen. Meine auch nicht. »Es könnte jeder gewesen sein«, sagte ich. »Wir wissen nicht, ob sie wegen mir erschossen wurde.«
»Klar, aber decken muß ich mich auf jeden Fall. Irgendwer erinnert sich, daß ich nach dieser Dame herumgefragt habe, und dann findet man sie mit einer Kugel im Hals. Ich meine, wie sieht das denn aus?«
Ich entschuldigte mich ausgiebig und sagte ihm, er solle mir Bescheid geben, falls er etwas herausfände. Er schien nicht sehr erpicht darauf, in Fühlung zu bleiben. Ich wechselte die Kleider, zog einen Rock, Strumpfhose und die Hochhackigen an, dann fuhr ich zum AVCO-Gebäude und nahm den Fahrstuhl zum zehnten Stock. Ich war von neuem deprimiert wegen Sharon Napier, Schuldgefühle drückten mir auf den Bauch wie eine leichte Kolik. Wie hatte ich nur diese Verabredung verpassen können? Wie konnte mir das passieren? Sie wußte irgend etwas , und wenn ich pünktlich hingekommen wäre, hätte ich die Untersuchung vielleicht schon abschließen können, anstatt dort zu stehen, wo ich stand — eigentlich nirgends. Ich drang wieder in den imitierten Stallhof von Haycraft und McNiece vor und starrte auf das getrocknete Korn an der Wand, während ich mich noch etwas weiter geißelte.
Garry Steinberg erwies sich als sehr netter Mann. Ich schätzte ihn auf Anfang Dreißig, mit dunklen, lockigen Haaren, dunklen Augen und einer schmalen Lücke zwischen den Schneidezähnen. Er war wahrscheinlich einsachtzig groß, und sein Körper sah weich aus, um die Taille aufgebläht wie treibender Brotteig.
»Sie bewundern meine Taille, hab ich recht?« fragte er.
Ich zuckte etwas einfältig mit den Schultern, da ich nicht wußte, ob er einen Kommentar von mir wünschte oder nicht. Er wies mir einen Sessel zu und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz.
»Lassen Sie mich Ihnen etwas zeigen«, sagte er mit erhobenem Finger. Er zog die oberste Schublade des Schreibtisches auf und holte einen Schnappschuß hervor, den er mir reichte. Ich warf einen Blick darauf.
»Wer ist das?«
»Perfekt«, sagte er. »Die perfekte Reaktion. Das bin ich. Als ich dreihundertundzehn Pfund wog. Jetzt wiege ich zweisechzehn.«
»Mein Gott«, sagte ich und betrachtete das Foto noch einmal. Tatsächlich erkannte ich jetzt, daß er seinerzeit ein wenig so ausgesehen hatte wie Arlette, wenn sie sich entschließen würde, Herrenkleidung zu tragen. Ich bin vernarrt in Vorher-Nachher-Aufnahmen, ein begeisterter Fan von all diesen Illustriertenreklamen, die Frauen aufgebläht wie Reifen zeigen und dann zauberhaft dünn, einen Fuß vor den anderen gesetzt, als hätte der Gewichtsverlust zugleich den Charme und die Kunst des Modellstehens aus der Wiege gehoben. Ich hätte gern gewußt, ob es noch irgend jemanden in Kalifornien gab, der nicht von seinem Selbstbild besessen war.
»Wie haben Sie das geschafft?« fragte ich und gab ihm die Aufnahme zurück.
»Scarsdale«,
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