Kinsey Millhone 08 - Sie kannte ihn fluechtig - F wie Faelschung
kümmere, und du warst einverstanden.«
Henry zuckte mit den Schultern. »Gut, dann bin ich also ein Lügner. Was soll ich dazu sagen?«
»Hör auf damit. Ich brauche keine Mutter.«
»Du brauchst jemand, der auf dich aufpasst. Das sage ich seit Monaten. Du vernachlässigst dich sträflich. Du isst nicht richtig. Lässt dich zusammenschlagen. Deine Wohnung fliegt in die Luft. Ich hab dir geraten, dir einen Hund zu halten, aber du hörst nicht. Und jetzt hast du mich, und wenn du mich fragst, du hast’s nicht besser verdient.«
Wie merkwürdig! Ich fühlte mich wie eines jener Küken, das sich zu einer Katzenmutter verirrt hatte. Meine Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ich fünf Jahre alt war. Weil ich keine richtige Familie hatte, hatte ich mich darauf eingestellt, alleine zurechtzukommen. Dieser Mann war zweiundachtzig. Wer konnte Vorhersagen, wie lange er noch lebte? Vermutlich würde er genau dann sterben, wenn ich mich gerade an seine Fürsorge gewöhnt hatte.
»Ich brauche weder Vater noch Mutter. Ich brauche dich als Freund.«
»Ich bin ein Freund.«
»Dann hör endlich mit diesem Unsinn auf. Es macht mich verrückt.«
Henry lächelte nachsichtig, als er auf die Uhr sah. »Du hast vor dem Essen gerade noch Zeit zu joggen, wenn du jetzt aufhörst, hier herumzumaulen.«
Das brachte mich zur Vernunft. Ich hatte tatsächlich gehofft, vor Einbruch der Dunkelheit noch laufen zu können. Mittlerweile war es bereits halb fünf, und ein Blick aus dem Küchenfenster sagte mir, dass nicht mehr allzu viel Zeit blieb. Ich hörte auf, herumzunörgeln, und zog meine Joggingsachen an.
Am Strand herrschte eine seltsame Stimmung. Sturmwolken hatten den Horizont sepiabraun gefärbt. Das stumpfe Ocker der Berge bildete einen merkwürdigen Kontrast, und der Himmel war von einem giftigen Orangerot überzogen. Es sah aus, als brenne Los Angeles lichterloh hinter einem Zauberdampf aus kupferfarbenem Rauch, der an den Rändern in dunkelbraune Tönungen überging. Ich lief den Fahrradweg entlang, der den Sandstrand säumte.
Die Küstenlinie von Santa Teresa verläuft in westliche und in östliche Richtung. Auf der Landkarte sieht es aus, als ob die zerklüftete Küste eine plötzliche Linksbiegung macht und eine kurze Strecke ins Meer hinausführt, bevor die Strömung sie zur Umkehr zwingt. Die Inseln waren im Hintergrund als Silhouetten sichtbar, und auf der dazwischenliegenden Wasserstraße glitzerten die Lichter der Bohrtürme, die hier zahlreich aus dem Meer ragten. Es ist traurig, aber wahr, dass Öltürme mittlerweile eine seltsame eigene Ästhetik entwickelt haben und ihr Anblick für uns so selbstverständlich geworden ist wie die Tatsache von Satelliten in der Erdumlaufbahn.
Nach etwa zwei Kilometern kehrte ich um. Die Straßenbeleuchtung war eingeschaltet. Es wurde allmählich empfindlich kalt, die Luft roch nach Salz, die Brandung donnerte gegen den Strand. Hinter der Brandungszone lagen Boote vor Anker; der Yachthafen des armen Mannes. Der Verkehr auf der Straße war ein Trost, denn die Autoscheinwerfer beleuchteten den Grasstreifen zwischen Bürgersteig und Fahrradweg. Ich versuche, täglich zu joggen, nicht aus Passion, sondern weil meine Kondition mir mehr als einmal das Leben gerettet hatte. Zusätzlich machte ich dreimal wöchentlich Hanteltraining, was ich jedoch wegen gewisser Verletzungen vorübergehend hatte unterbrechen müssen.
Als ich nach Hause zurückkam, hatte sich meine Stimmung gebessert. Wenn man außer Atem ist, halten sich weder Angst noch Depressionen. Mit der Anstrengung und dem Schweiß stellt sich Optimismus ein. Wir aßen in freundschaftlicher Atmosphäre zu Abend, und anschließend ging ich in mein Zimmer, um meine Reisetasche für Floral Beach zu packen. Über meinen neuen Fall hatte ich mir noch keine weiteren Gedanken gemacht. Ich nahm mir die Minute Zeit, um eine Akte anzulegen und sie mit Bailey Fowlers Namen zu beschriften. Dann blätterte ich die Zeitungen durch, die im Abstellraum lagerten, und schnitt jenen Teil heraus, in dem über Fowlers Verhaftung berichtet wurde.
Dem Artikel konnte ich entnehmen, dass Bailey Fowler gerade wegen bewaffneten Raubüberfalls verurteilt worden war — die Strafe war zur Bewährung ausgesetzt worden — , als seine siebzehnjährige Freundin erwürgt aufgefunden wurde. Einwohner des Ferienortes hatten ausgesagt, dass der damals dreiundzwanzigjährige Fowler seit Jahren immer wieder mit der Drogenszene zu tun gehabt
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