Klammroth: Roman (German Edition)
immer diesen besänftigenden Tonfall, der sie nur noch mehr aufregte. So mussten Polizisten klingen, die einem mitten in der Nacht eine Nachricht überbrachten. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihre Tochter bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen ist.
»Hat er was gesehen?«, fragte sie. »Wer auch immer sie entführt hat, muss geklingelt haben, um in die Pension zu kommen.«
Herzog war selbst ein wenig blass geworden. »Er sagt, Sie seien alleine angekommen. Und dass Sie die ganze Zeit über alleine waren. Dass er sich gewundert hat, dass sie ein Doppelzimmer gebucht haben, aber dass ihn das ja nichts angehe.« Er fixierte sie jetzt mit einem Blick, der fast wehtat. »Der Mann sagt, Ihre Tochter war nie bei Ihnen.«
Sie starrte ihn mit offenem Mund an. »Das ist absurd«, brachte sie schließlich hervor. Es war unmöglich, sich auf etwas anderes als ihre Angst um Lily zu konzentrieren.
»Bitte, setzen Sie sich und –«
»Völlig absurd!« Wieder war es, als träfe sie etwas mit aller Kraft am Kopf. »Sie gehören dazu! Sie haben mir nie Ihren Ausweis gezeigt. Sie stecken mit denen unter einer Decke!«
Sie rannte hinaus auf den Flur, schlug die Zimmertür hinter sich zu, drehte den Schlüssel herum und zog ihn ab. Keine Sekunde später hämmerte Herzog von innen gegen das Holz. »Lassen Sie mich raus!«
Sie ignorierte ihn, prallte im Dunkeln gegen den Wirt, drängte ihn aus dem Weg, hörte ihn etwas rufen, hetzte aber schon die Stufen hinunter.
Dann war sie wieder im Regen, draußen in der Nacht.
Sie hatte den Autoschlüssel oben im Zimmer liegen lassen. Genau wie ihr Handy. Aber sie konnte laufen. Sie war hier aufgewachsen. Sie kannte alle Wege, alle Abkürzungen, und war mit jedem Flecken, jedem Winkel vertraut.
Mit einem Hämmern in der Brust, das fast ihre Rippen sprengte, machte sie sich auf den Weg.
37
Unterwegs sah sie nur Lily.
Lily neben ihr auf dem Beifahrersitz, ihr Lächeln und Schmollen und mädchenhaftes Kichern. Lily, die sie tröstend in den Arm nahm wie eine ältere Schwester. Lily, die in den vergangenen Tagen für sie da gewesen war, vor allem in Amsterdam, als Anais’ Selbstzweifel wieder besonders groß gewesen waren. Die Performance, das Überwinden des Ekels, der Schmerz so vieler Stunden auf dem Knochenberg. Aber Lily hatte sie beruhigt, hatte ihr gut zugeredet und sie dabei mit diesem ernsten, viel zu alten Blick angesehen, der ihr sagte, ja, es ist Unsinn, aber es ist genau der Unsinn, den du willst und der zu dir gehört.
Und sie erinnerte sich an ihr Gespräch in der Pension und an die Kissenschlacht. Albern und kindisch und unbefangen. Lily hatte, verdammt noch mal, keinen Grund gehabt, ihre Sachen zu packen und zu verschwinden! Falls jemand sie entführt hatte, dann steckten sie alle mit drin. Diese ganze verdammte Stadt hatte sich gegen sie verschworen, so wie damals, als Anais vor diesen Menschen ins Internat geflohen war, vor ihren Verleumdungen und Sticheleien und der ganzen bornierten Ungerechtigkeit dieses Kleinstadtpacks.
Die Frau an der Rezeption des Altenheims warf einen beunruhigten Blick auf die klitschnasse, nächtliche Besucherin und wollte sie zurückhalten, aber Anais verschwendete keine Zeit. Sie stürmte an ihr vorbei durch einen Torbogen und weiter in den Korridor mit der gotischen Gewölbedecke.
Die Beleuchtung im Flur war gedimmt worden. Sie liefdurch schwefeliges Halblicht, vorbei an hohen Türen, während die Rezeptionistin ihr folgte und mit gedämpfter Stimme zeterte, sie könne mitten in der Nacht keinen der Bewohner wecken. Auch nicht ihren Vater.
Anais erreichte seine Zimmertür und öffnete sie ohne anzuklopfen. Stechender Geruch drang ihr entgegen. Der kleine Strahler auf dem Nachttisch war eingeschaltet, doch sein Lichtschein war auf ein geöffnetes Buch gerichtet, das genau darunter lag. Es sah aus wie eines der Märchenbücher aus ihrer Kindheit. Im Rest des Raumes ballten sich die Schatten.
Die Bettdecke war zurückgeschlagen, die Matratze leer. Ihr Vater saß in seinem Sessel vor dem hohen Jugendstilfenster, wie immer mit dem Rücken zur Tür. Sein Spiegelbild ließ sich schwach in den Scheiben erahnen, ein fahler Spuk in der Nacht. Die Lampen im Garten waren nicht eingeschaltet. Jenseits der Wiese waren die Tannen eins mit dem Weinberg, der hinter ihnen aufstieg.
Er trug einen gestreiften Pyjama, der ihm zu groß war. Der alte Mann schien geschrumpft zu sein, vielleicht niedergedrückt von der Last auf seinem
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