Klammroth: Roman (German Edition)
Gewissen.
»Gehen Sie«, verlangte Anais von der Rezeptionistin an der Tür.
»Sie können hier nicht um diese Uhrzeit auftauchen und –«
»Glauben Sie mir, es ist wichtig.«
Die Frau machte keine Anstalten, auch nur einen Schritt zurückzutreten. »Ich weiß nicht, was Ihnen zugestoßen ist, aber vielleicht sollten Sie lieber einen Arzt –«
»Mir geht es hervorragend, vielen Dank.« Mit diesen Worten schob Anais sie an der Schulter zurück auf den Korridor und schloss die Tür vor ihrer Nase.
»Das geht so nicht!«, sagte die Frau auf der anderen Seite, unternahm jedoch keinen weiteren Versuch, das Zimmer zu betreten. Nach einigen Sekunden hörte Anais, wie sich ihre Schritte entfernten. Allzu viel Zeit blieb ihr jetzt nicht mehr.
»Papa«, sagte sie, als sie um den Sessel herum trat und ihm ins Gesicht sah, »ich bin’s.« Das sagte sie immer, Ich bin’s , aber heute war sie zum ersten Mal überzeugt, dass das nicht nötig war. »Ich weiß, dass du mich hörst. Lass dieses Schmierentheater und sieh mich an.«
Er blickte stur in die Nacht hinaus.
Anais schob eine Kunstblume beiseite und setzte sich ihm gegenüber auf die Fensterbank. Sie musste die Beine ein wenig spreizen, damit sie seine Knie nicht berührten. Ihre Augen waren fast auf einer Höhe.
»Lily ist verschwunden«, sagte sie. Zum ersten Mal brachte sie es fertig, diese Worte klingen zu lassen, als könnte sie sachlich darüber sprechen. Was sie nicht konnte. Aber sie versuchte es. Herrgott, sie versuchte es so sehr! »Deine Enkelin ist heute Abend in diesem Ort verloren gegangen, und das hat irgendwas mit dir zu tun. Mit Theodoras Tod und vielleicht noch mit anderen Dingen, die hier geschehen sind. Ich werde hier nicht weggehen, ehe du mir die Wahrheit gesagt hast.«
Wie sonst soll ich sie denn finden? , hätte sie ihm am liebsten ins Gesicht geschrien.
Keine Reaktion in seinen Augen, nicht die leiseste Veränderung seiner Miene. Er saß da wie eine Wachsfigur, die noch nicht bemalt worden war: grau und bleich und leblos.
»Du redest jetzt mit mir!« Sie beugte sich vor und packte ihn am Arm. Er ließ sich nach vorn reißen wie eine Puppe. »Damit ist jetzt Schluss, du verlogenes Stück Scheiße!«
Er atmete tief ein, so, als wäre es das erste Mal seit Jahren. Seine Hand öffnete und schloss sich wie eine Vogelklaue.
Als Anais wieder in sein Gesicht sah, hatten sich seine Augen verengt und blickten in ihre Richtung.
»Sie wollen Vergeltung für das, was wir getan haben«, flüsterte er. Es war die Stimme vom Telefon, die sie in so vielen Nächten aus dem Schlaf gerissen hatte. Furcht schwang darin mit, aber seine Miene war ein einziger Vorwurf.
»Was wir getan haben?«, fuhr sie ihn an.
»Sie kommen nachts ans Fenster.«
Unter ihrer Perücke meldete sich ein Phantomschmerz zurück, den sie seit Jahren nicht mehr gespürt hatte: Als packe jemand ihre langen Haare und zöge heftig daran.
Langsam drehte sie den Kopf und blickte über ihre Schulter in die Finsternis.
»Sind sie jetzt da draußen?«, fragte sie leise. »Kannst du sie sehen?«
Ihr Atem ließ die Scheibe beschlagen.
Oder beschlug sie von außen?
Sie wagte es nicht, den Finger über das Glas zu ziehen.
»Sie kommen nie ins Licht«, sagte ihr Vater mit heiserer Stimme. »Sie bleiben immer an der Grenze zur Dunkelheit.«
Dann mochten sie jetzt unmittelbar hinter der Scheibe sein.
Jäh wandte sie sich wieder ihrem Vater zu. Man hätte meinen können, er sei aus tiefem Schlaf erwacht, doch sie wusste es besser. »Du hast dich die ganze Zeit über verstellt.«
»Sie haben die Schuldigen gefunden.« Seine Augen weiteten sich langsam. Sie war fast sicher, dass er gerade etwas hinter ihr sah, draußen vor dem Fenster. Aber sie schaute nicht hin. Stattdessen konzentrierte sie sich ganz auf das Entsetzen in seinem Blick.
»Sie werden keine Ruhe geben«, sagte er, »bis die Schuld beglichen ist.«
»Welche Schuld denn, verdammt noch mal?« Sie war ein Opfer gewesen wie alle anderen. Nicht einmal damals, als die Menschen von Klammroth sie wie eine Aussätzige behandelt hatten, hatte irgendwer das infrage gestellt. Man hatte ihr stumm zum Vorwurf gemacht, dass sie glimpflicher davongekommen war als die meisten anderen, weil sie es ohne Hilfe aus dem Inferno geschafft hatte. Aber eine Schuld? Wovon redete er?
Vielleicht ging es ihm gar nicht um die Opfer des Tunnels. »Hast du Theodora getötet?«, flüsterte sie.
Sie war sicher, dass es das war, was von Stille ihr
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