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Klammroth: Roman (German Edition)

Klammroth: Roman (German Edition)

Titel: Klammroth: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isa Grimm
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Freie, sprang von der Brüstung in eine Wehe aus Herbstlaub und lief hinaus in die Nacht. Niemand packte sie, es tanzten auch keine Rauchschwaden mehr am Rand ihrer Wahrnehmung. Anais würde zu ihnen gehen, wenn sie nicht zu ihr kamen.
    Bevor sie zwischen die Tannen glitt, blickte sie noch einmal zurück. Ihr Vater hatte sich aus dem Sessel erhoben, sie sah seine Silhouette vor dem Schein der Nachttischlampe. Einen Moment lang stand er am offenen Fenster und hatte die Arme im Rahmen gespreizt. Schließlich packte er den Griff und zog die Scheibe zu. Als er zurück auf seinen Platz sank, schien ihn der Umriss des Sessels zu verschlingen, ein schwarzer Fleck in Anais’ Vergangenheit.
    Die Sirene verstummte.
    Anais fand eine Tür im Zaun und lief hinauf in die verwilderten Weinberge.

38
    Den Weg zum Tunnel nahm sie als irres Flackern wahr, bei dem sich ihre Wahrnehmung im Stroboskoptempo ein- und ausschaltete. Sie sah Bruchstücke des Waldes, des Berges, der Nacht, im Wechsel mit einer schwarzen Leere, die sich wie eine Samtkapuze über ihre Sinne legte.
    Wieder war es stockdunkel, als sie sich dem Eingang näherte. Unten im Tal rauschte der Fluss wie ein Wasserfall und lag mit tausend Stimmen unter dem Crescendo des peitschenden Niederschlags auf dem Laub.
    Während des letzten Stücks schien die Umgebung noch einmal alle Kraft aufzubieten, um Anais zurückzuhalten. Wo sich die Bäume teilten, war der Boden zu schmatzendem Morast geworden, der bis zu ihren Hüften spritzte. Zugleich war aus dem weichen Boden ein Netzwerk von Wurzeln aufgestiegen, das nach ihren Füßen tastete. Sie taumelte und stolperte, aber sie rannte weiter, während der Regen die Schlammspritzer von ihrer Haut spülte und sich dabei mehr und mehr wie ein Hagel aus Glassplittern anfühlte.
    Sie kämpfte sich durch den Wall aus Unkraut und betrat die gemauerte Schneise vor dem Tunneleingang. Wieder der Brandgeruch, der Gestank ihres brennenden Haars.
    »Wo seid ihr?«, schrie sie in die Dunkelheit am Ende der Schneise. »Was wollt ihr von mir?«
    Das Tor stand offen.
    Der rechte Flügel war so weit nach innen gezogen worden, dass ihn die Finsternis verschlungen hatte. In der Öffnung brodelte die Schwärze wie das Innere eines Teerkochers, schien Blasen zu werfen, die platzten und in sichzusammenfielen, aber immer wieder wie Gesichter aussahen: junge, schreiende Gesichter.
    »Wenn ihr Lily habt«, brüllte Anais sie an, »dann gebt sie mir zurück!«
    Flatternde schwarze Formen lösten sich aus dem Rachen des Tunnels und wehten ihr entgegen, wogend und wabernd wie Plastikbeutel, die vom Wind umhergeschleudert wurden. Und doch zu unscharf, um mehr zu sein als eine Erinnerung an früheren Rauch, der aus diesem Tunnel getrieben war. Schwaden aus fettigem Menschenqualm.
    »Wo ist sie?« Anais lief weiter, direkt auf das geöffnete Tor zu, ungeachtet all des Gewirbels und Gewispers um sie herum. »Was habt ihr mit ihr gemacht?«
    Etwas strich über ihr Gesicht wie eine Hand, so sanft, dass es auch ein Windhauch gewesen sein könnte. Dann ein vielstimmiger Lockruf, sie möge bleiben, nicht wieder gehen, einfach eintreten und ihnen an jenen Ort folgen, an den sie gehörte.
    Im letzten Moment blieb sie stehen.
    »Lily?«, rief sie ins Dunkel, nicht sicher, ob die Gesichter, die sich ihr entgegenwölbten, nur ihrer Einbildung entsprangen, dem Stress, der Angst um ihre Tochter.
    »Lily!«
    Die einzige Antwort war das Getuschel des Regens, das Jammern des Windes, der klagende Choral aus dem Tunnel. Und dann war da etwas, das sie bereits kannte: Das Gefühl fremder Schmerzen rollte wie eine Woge aus dem steinernen Schlund auf sie zu und ließ sie atemlos in die Knie gehen. Ihr Oberkörper sackte nach vorn, sie stützte sich gerade noch mit den Händen auf, und als sie das Gesicht wieder hob, waren sie über ihr und starrten sie an, und sie weinten und zeigten mit wabernden Fingern auf sie.
    A nais.
    Eine Stimme unter vielen, wärmer und vertrauter.
    Anais   …
    Sie blinzelte und sah sie alle um sich, aus schwarzem, zerzaustem Rauch, und einige erkannte sie wieder, aber hinter jenen waren andere, eine zweite, ungleich ältere Reihe, ein Wall aus Verbitterung, Enttäuschung und Hass. Anais konnte sie deutlich spüren, die Ablehnung, den Ruf nach Vergeltung, und für einen Moment wurden davon alle anderen Gefühle zurückgedrängt. Sie schrie erneut, stieß sich vom Boden ab und stolperte rückwärts vom Tunnel fort, von den ausgestreckten Händen, einige

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