Klammroth: Roman (German Edition)
hatte mitteilen wollen, als er Herzog von den leeren Müllbeuteln erzählt hatte. Eine Fährte zum wahren Täter. Sie hatte die Falschen verdächtigt. Erst Sebastian und Erik, dann Sternberg – oder war es umgekehrt gewesen?
»Als das Haus gebrannt hat«, fragte sie, »war das eine der Nächte, in denen du von hier weggelaufen bist? Du konntest bis zur Telefonzelle gehen – du hättest es auch den Berg hinauf geschafft.«
Sie wandte sich um und deutete durch den Garten des Heims zum Hang. Etwas zog sich zurück, wirbelnd wie die Enden schwarzer Papierstreifen. Sie kümmerte sich nicht darum, jetzt nicht mehr.
»Du warst das«, sagte sie, als sie sich wieder zu ihm umdrehte und in seinem Gesichtsausdruck die Antwort fand. Die Wahrheit nahm vor ihrem geistigen Auge Form an wie Wolkenfetzen, in denen sie allmählich Gestalten erkannte.
»Hat Erik in dieser Nacht Dienst gehabt? Hat er dich gefunden und gewaschen und dann aller Welt verschwiegen, dass du fort warst?« Sie rieb sich über die Stirn, hörte jedochgleich wieder auf, weil ihre Haut zu gereizt war, je näher sie den Narben kam. »Er hat das für dich getan, weil du dich damals um ihn gekümmert hast. Weil du der Einzige warst, der jemals gut zu ihm war.«
»Er hat gewusst, was für ein Mensch Theodora war«, sagte ihr Vater so trocken, als läge Sand auf seiner Zunge. »Erik hat es viel früher durchschaut als ich, genau wie dein Freund Sebastian und …« Er verstummte kurz, dann wich er ihrem Blick aus. »Genau wie du. Ich habe es viel zu spät begriffen. Sie hat mich ausgenutzt, so, wie die Kinder, und alles nur, um ihre Klinik aufzubauen. Und sie hat dich von hier vertrieben.«
Nein, das warst du , wollte sie ihm entgegnen. Aber es war besser, ihn reden zu lassen.
Das meiste glaubte sie ihm. Nur wenn er die Sprache auf sie brachte, geschah etwas mit seiner Stimme, das sie abstoßend fand. Es ging nicht um seine verlogene Moral oder die Zuneigung, die er ihr weismachen wollte. Vielmehr schwang in seinen Worten eine Täuschung mit, die tiefer ging. Sie spürte es, konnte aber nicht den Finger darauf legen.
»Sie wissen um meine Schuld«, sagte er. »Und um deine.«
Aber nicht sie hatte Theodora ermordet. Sie hatte auch nicht die Busse voller Menschen angezündet. Trotzdem schien er überzeugt zu sein, dass sie eine Strafe verdiente. Dass die Schemen dort draußen etwas von ihr forderten.
Mit einem Mal begriff sie, was er getan hatte – und warum.
»Es ging nicht darum, dass Theodora dich ausgenutzt hat«, brachte sie mühsam hervor. »Du hast das Haus in Brand gesteckt – aber nicht, um sie zu töten oder Spuren zu verwischen.«
Sein Blick ruhte jetzt kristallklar in ihrem, als wären sie vor lauter Gefühlskälte aneinander festgefroren.
»Das Haus abzubrennen hatte nur einen einzigen Zweck«, sagte sie tonlos.
Da nickte er zum ersten Mal.
»Du wolltest mich herlocken.« Ihre Lippen waren wie verklebt vor Abscheu. »Theodora musste sterben und das Haus brennen … damit ich nach Klammroth komme! «
Und ich habe Lily mitgebracht, fügte sie in Gedanken hinzu. Das war allein meine Idee! Mein Fehler!
Eine Träne erschien in seinem Augenwinkel. Trotzdem verzog er keine Miene. Er streckte die Hand nach ihr aus, aber sie schrak davor zurück.
»Du hast mich in eine Falle gelockt. Weil du dachtest, dass sie mich nehmen und dich dafür in Frieden lassen!«
Aber was wollten die Geister des Tunnels von ihr? Und von ihm? Sie verstand es einfach nicht.
Noch einmal ruckte ihr Kopf herum zum Fenster, und wieder schien das Wabern in der Finsternis vor ihrem Blick zurückzuweichen.
»Dann ist es deine Schuld, wenn Lily etwas zustößt!« Sie sprang auf und packte ihn am Kragen, eine hilflose Geste, die zu nichts führte, außer dass sie sich lächerlich vorkam. Es war das eine, dass er sie hintergangen und für dumm verkauft hatte. Aber wenn Lily durch seine Schuld ein Leid geschah, dann würde sie zu ihm zurückkommen.
»Lily?«, fragte er nur.
Sie stieß ihn zurück in den Sessel, als in der Ferne eine Polizeisirene heulte. Herzog war auf der Suche nach ihr. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er hier auftauchte.
Anais bedachte ihren Vater mit einem letzten hasserfüllten Blick, dann wandte sie sich dem Fenster zu und umschloss den altmodischen Metallhebel mit beiden Händen. Er lag kalt zwischen ihren Fingern wie ein Messergriff; sie wünschte sich, es wäre einer.
Dann riss sie das Fenster auf und kletterte ins
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