Kleine Luegen erhalten die Liebe
sie entfesseln könnte, auf der Stelle wieder abgeschaltet. Aber diesmal wagt er zuzuhören und stellt fest, dass er sich nicht an die Sirenen, den Balkon, das rotierende Licht des Krankenwagens oder den Kuss erinnert, sondern an die Stunden davor in jener vorletzten Nacht an der Strandbar. Wo sie tanzten, alle sechs, glücklich und von Ibizas Sonne tief gebräunt. Als es erst der Anfang war.
Und jetzt kann er Livs Gesicht sehen. Die Katzenaugen der Autobahn tanzen auf seiner Windschutzscheibe wie damals die wirbelnden Discolichter auf ihrer sonnengeküssten Haut.
Er erinnert sich, wie sie über die Tanzfläche auf ihn zueilt und er dann ihren warmen Atem an seinem Ohr spürt: »Ich gehe eine Runde im Lake Liv schwimmen! Ich kann diesem Meer keine Sekunde länger widerstehen. Sieh es dir an, Frase! Ist es nicht wunderschön?«
Als die Musik verklingt und der Stimme des Sprechers weicht, wird Fraser plötzlich bewusst, dass dies Livs letzte Worte an ihn waren, an die er sich erinnern kann, und dann ist sie auf einmal weg. Wie weggeblasen. Und als Fraser blinzelt, kann er nur noch den endlosen Streifen Autobahn durch den Schleier seiner Tränen sehen.
An der nächsten Ausfahrt biegt er ab und hält auf einemParkplatz an. Bei geöffneter Wagentür raucht er eine Zigarette, seine erste seit fünf Tagen, und bläst den Rauch in die kühle, feuchte Luft, ohne sich der Tränen bewusst zu sein, die ihm noch immer über die Wangen laufen. Er denkt, dass der einzige Mensch auf der Welt, den er jetzt gern sehen würde, Mia ist, und überlegt, ob er sie nicht noch mal anrufen könnte? Sie ist doch nur wenige Autobahn-Ausfahrten entfernt, vielleicht würde sie ihn ja sogar begleiten?
Er drückt die Zigarette auf der Erde aus und scrollt in seinem Handy-Telefonverzeichnis hinunter zu ihrem Namen, bevor er sich zu viele Gedanken machen kann.
♥
»Mia, es ist Fraser. Schon wieder! «, brüllt Eduardo aus dem Wohnzimmer.
Im Bad tut Mia so, als schlüge sie vor Verzweiflung ihren Kopf gegen die Wanne, was Billy sehr erheitert.
»Okay«, ruft sie zurück. »Kannst du herkommen und nach Billy sehen?«
Ein übertriebener Seufzer, gefolgt von hörbar widerwilligen Schritten auf dem Laminat-Boden der Diele, als Eduardo mit dem Telefon aus dem Wohnzimmer herüberschlurft. Es ist nun schon das dritte Mal an diesem Abend, dass Fraser anruft, um Mia über das Fiasko mit Norm und Melody auf dem Laufenden zu halten, und Eduardo ist langsam genervt. Heute Abend zaubert er mit seinem neuen kulinarischen Spielzeug eines seiner seltenen Abendessen, und angesichts dieser großartigen Geste des Nudelmachers hat die Welt natürlich zum Stillstand zu kommen.
Ein Küchentuch über der nackten Schulter, erscheint er in der Badezimmertür und reicht Mia das Telefon. »Danke«, sagtsie mit einem spöttischen Lächeln, als sie es entgegennimmt. »Hey«, flüstert sie ihm rasch ins Ohr, »ich kann nichts dafür, wenn meine Freunde eine Ehekrise haben, klar? Also bemüh dich bitte, eine andere Miene aufzusetzen und an all den Mist zu denken, den ich bei deinen Freunden toleriere!«
Dann flaniert sie in Richtung Küche und dreht sich noch einmal um, um ihn aus schmalen Augen anzusehen.
»Hallo?«
»Hi, Mia, ich bin’s noch mal, um dich auf den neuesten Stand zu bringen.«
Fraser klingt nervös, als wäre es ihm unangenehm, schon wieder anzurufen, und Mia lächelt, weil sie das sehr liebenswert findet.
»Ja, was gibt’s denn Neues an der Front?«
»Norm hat sich vor etwa einer Viertelstunde wieder gemeldet. Er kann Melody noch immer nicht erreichen.«
»Oh, verstehe.« Mia fragt sich, ob das als »neuester Stand« durchgehen kann.
»… und da es nun schon beinahe dunkel ist, hat er jetzt erst richtig Schiss.«
»Verdammt.«
»Genau.«
»Was sollen wir tun?«
»Ich weiß es nicht«, antwortet Fraser.
»Hat er sonst noch was gesagt?«
»Nur, dass sie echt betrunken war, sie hatten offensichtlich eine Flasche Champagner getrunken und sich Austern vom Zimmerservice kommen lassen. Ich meine, was für eine Verschwendung …« Er bricht ab, als verschwiege er etwas.
»Und?«
»Sie trägt nur eine Korsage und einen Strumpfhalter.«
»Was?« Mia steht auf. »Ist das alles ?«
»Und einen dieser chinesischen Seidenkimonos.«
»Ach, dann ist es ja nicht so schlimm.«
»Ich sage nicht, ob es schlimm ist oder nicht, ich gebe dir nur die Fakten durch, damit du informiert bist.«
♥
»Wie klingt Norm?«
»Betrunken, unzurechnungsfähig,
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