Knochenfinder
wurde schlecht. Wenn Siebert weiter so prahlte, würde er sich irgendwann übergeben müssen. »Hat das Projekt rein präventiven Charakter, oder gab es an Ihrer Schule Fälle, die ein Eingreifen nötig machten?«
Sieberts Brust fiel in sich zusammen. »An unserer Schule ist eine Gruppe von Schülern negativ aufgefallen. Leider haben Strafen und die Androhung von Schulverweisen nicht geholfen, sodass wir uns genötigt sahen, andere Schritte zu gehen. Wir wollten die Schüler nicht fallen lassen. Bei der Beschäftigung mit dem Thema bin ich auf ein Projekt aus Mecklenburg-Vorpommern gestoßen, das als sehr erfolgreich gepriesen wurde. Ich habe es quasi adaptiert und an unsere Schule angepasst. Mit Erfolg. Wir haben jetzt in jedem Jahr eine Anti-Gewalt-Woche, in der wir Angebote zum Thema machen, etwa Theaterstücke, Kinofilme und Workshops. Außerdem halten wir unsere Schüler zur gegenseitigen Achtsamkeit an.« Langsam schwoll die Brust wieder an; Siebert schien es verwunden zu haben, dass seine Schule nicht von Beginn an perfekt gewesen war.
Winterberg hatte plötzlich das Gefühl, bei der Schulwahl für seine Söhne verantwortungslos und nur nach praktischen Gesichtspunkten gehandelt zu haben. Das Gymnasium von Niklas und Fabian war ein Hort von Gewalt und Aggression. Jedenfalls musste er das aus den Ausführungen des vorbildlichen Realschullehrers schließen. Winterberg spürte eine tiefe Abneigung gegen diesen Vorzeigepädagogen.
»Gut, dann erzählen Sie mir doch bitte von Ihren schwarzen Schafen.« Er verschränkte die Arme auf dem Tisch und wappnete sich für einen weiteren Vortrag. Dabei würde er Manuel im Auge behalten.
»Tja, was soll ich da groß erzählen?« Siebert sog zischend die Luft ein. »Es handelte sich um drei Jungen aus der Klasse neun, die schon seit Längerem auffällig gewesen waren. Sie haben Jüngere auf dem Nachhauseweg bedroht und erpresst, und es dauerte lange, bis wir ihnen auf die Schliche gekommen sind. Die jüngeren Schüler waren eingeschüchtert und haben sich lange Zeit weder an uns noch an ihre Eltern gewandt. Doch ein Schüler war dann mutig genug, sich an einen unserer Vertrauenslehrer zu wenden. Es kam zu Disziplinarkonferenzen, aber nicht zu Schulverweisen. Das ist die Vorgeschichte.« Siebert räusperte sich. »Danach waren die Schüler erst einmal unauffällig. Aber nach einiger Zeit sind andere Mitschüler auf etwas aufmerksam geworden: Sie haben mitbekommen, wie die drei immer wieder Filme auf ihren Handys anschauten, das aber vor den anderen geheim hielten. Eine Schülerin hat die drei dann zufällig an einem Nachmittag dabei beobachtet, wie sie einen anderen Jugendlichen offensichtlich grundlos zusammenschlugen und das Ganze aufnahmen.«
»Happy Slapping« , sagte Winterberg.
Siebert hob die Augenbrauen. »Sie kennen dieses Phänomen also auch. Dachte ich mir doch.«
Winterberg blickte zu Manuel, der jedoch in Musterschülerposition neben seinem Vater saß und sich keinerlei Gemütsregung anmerken ließ. Entweder hatte er ein völlig reines Gewissen oder er war geschult im Verbergen seiner Gefühle und Gedanken. Winterberg hielt beides für möglich. Er schaute nun Siebert an und erzählte: »Manuel hat an seiner Schule Ähnliches beobachtet, weil er für dieses Thema sensibilisiert war. Er hat uns damit wichtige Hinweise geliefert, die uns bei der Suche nach dem vermissten Schüler helfen können. Eigentlich wünscht man sich das auch von den Lehrern. Gibt es solche Projekte auch an anderen Schulen hier in der Region?
Siebert schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Wie ich bereits sagte, ist die finanzielle Seite nicht zu unterschätzen. Solche Projekte sind teuer und können in der Regel nicht von den Schulen getragen werden. Und wenn es keine Drittmittel gibt, sind die Projekte nur schwierig zu realisieren. Das gilt übrigens für alle Projekte, nicht nur für die gegen Gewalt.«
Danke, ich bin ebenfalls im öffentlichen Dienst, hätte Winterberg am liebsten geantwortet. Als ob sie bei der Polizei nicht mit den gleichen Problemen zu kämpfen hätten! Das Geld war überall knapp. Die Stunden, die sie in Kindergärten, Schulen und Jugendeinrichtungen zur Prävention anboten, waren in den letzten Jahren sukzessive weniger geworden. Man konnte den Eindruck gewinnen, als ob die da oben nicht verstanden hätten, dass die Kinder von heute die Erwachsenen von morgen sind.
Er wandte sich an Manuel: »Weißt du, wie groß die Gruppe der Jugendlichen mit diesen Filmen
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