Knochenhaus (German Edition)
aufpassen sollst. Vor allem in den ersten paar Monaten.»
Ruth öffnet den Mund und schließt ihn dann wieder. «Woher weißt du das?»
«Es ist recht offensichtlich», sagt Cathbad, «für ein geübtes Auge.»
«Und seit wann hast du für so was ein geübtes Auge?»
«Ich bin immerhin Wissenschaftler.» Cathbad klingt gekränkt. «Und ein guter Beobachter.»
«Und das hast du jetzt also in den letzten fünf Minuten beobachtet?»
«Na ja, ich habe dich neulich schon über den Campus gehen sehen und dachte mir … es könnte schon sein. Und als ich dich eben sah, war ich mir sicher.»
Ruth will gar nicht darüber nachdenken, was das heißt. Wenn Cathbad es sieht, wer hat es dann noch alles bemerkt? Phil? Ihre Kollegen? Nelson?
«Wie weit bist du denn?», fragt Cathbad im Plauderton, als sie durch die Schwingtüren nach draußen gehen.
«Dreizehnte Woche.»
«Wie schön.» Cathbad rechnet offensichtlich bereits nach. «Ein kleiner Skorpion.»
«Wenn du das sagst.» Ruth weiß nie genau, wann welches Sternzeichen anfängt. Sie selbst ist Krebs und den Büchern zufolge häuslich und liebevoll, was nur einmal mehr beweist, dass das alles blanker Unsinn ist. Als sie vor ihrem Auto stehen, gibt Cathbad ihr den Rucksack zurück.
«Danke.» Ruth hievt ihn auf den Rücksitz. «Dann bis Freitag.»
«Ja», sagt Cathbad. «Sag mal, Ruth, weiß Nelson es schon?»
«Was soll Nelson denn wissen?»
«Das mit dem Baby.»
Ruth wirft ihm einen durchdringenden Blick zu, den er treuherzig erwidert. Kein Mensch weit und breit weiß von ihrer Liebesnacht mit Nelson. Cathbad hat wohl nur einen Schuss ins Blaue riskiert.
«Nein. Wieso sollte er?»
«Ach, nur so.» Cathbad hebt die Hand und winkt ihr fröhlich zu. «Pass gut auf dich auf, Ruth. Bis Freitag.»
Nach ihrem Zusammenstoß mit Cathbads sechstem Sinn sehnt sich Ruth vor allem nach Einsamkeit, als sie die schmale Straße am Salzmoor entlangfährt. Doch dann sieht sie schon von weitem, dass sie Besuch hat. Vor ihrem Gartenzaun steht ein tiefgelegter Sportwagen, und vom Fahrersitz leuchtet ein roter Haarschopf herüber.
Shona. Lange Zeit war sie Ruths beste Freundin in Norfolk, vielleicht sogar die beste Freundin, die Ruth überhaupt jemals hatte. Doch dann kam die Salzmoor-Sache, die Ruths ganzes Leben und auch ihre Freundschaft zu Shona in Unordnung gebracht hat. Ruth musste Dinge aus Shonas Vergangenheit erfahren, die sie zweifeln ließen, ob sie ihre Freundin überhaupt jemals richtig gekannt hat. Schlimmer noch: Sie hat sich von Shona betrogen gefühlt. Aber irgendwie haben sie dann doch wieder die Kurve gekriegt. Die gemeinsame Trauer um Erik, die geteilten Schuldgefühle und das Bedürfnis, aus dieser schrecklichen Zeit wenigstens etwas Gutes herüberzuretten: Das alles hat sie wieder zusammengeführt, auch wenn sie nicht mehr ganz so offen zueinander sind wie früher. Ruth kann nicht vergessen, dass Shona sie fast zehn Jahre lang belogen oder ihr zumindest eine ganze Menge verschwiegen hat. Und Shona hat das Gefühl, dass Ruth sie für diese Lügen zu hart verurteilt. Trotzdem brauchen sie einander: Keine von beiden hat eine andere Vertraute, und Freundschaften sind nun einmal kostbar. Als Ruth jetzt hinter Shonas Wagen hält, ist der leichte Ärger über die Störung ihrer Einsamkeit bereits wieder verraucht.
«Wo hast du denn gesteckt?» Shona umarmt sie. Sie trägt ein grünes Hexenkleid, das sich im Wind vom Meer her bauscht. Das Haar fliegt ihr wie Flammenzungen um den Kopf. Manchmal macht Shona Ruth fast wütend mit ihrer Schönheit – und dann gibt es wieder Momente, in denen sie bereit wäre, ihr dafür so ziemlich alles zu vergeben.
«In der Uni.»
«Du arbeitest zu viel.»
Shona unterrichtet selbst an der Universität, im Fachbereich Englisch. Während der letzten zehn Jahre hat sie sich auf mehrere katastrophale Affären mit verheirateten Kollegen eingelassen, zurzeit ist sie mit Ruths Chef Phil liiert. Ruth hofft inständig, dass ihr keine detaillierte Analyse von Phils Fähigkeiten als Liebhaber bevorsteht und ihr auch keine Mutmaßungen darüber abverlangt werden, ob er wohl bald seine Frau verlassen wird. Selbst wenn sie nicht schwanger wäre, würde ihr beim Gedanken an Sex mit Phil auf der Stelle übel werden, und ihrer Ansicht nach wird auch seine Ehe mit Sue, einer langweiligen Aromatherapeutin, bis in alle Ewigkeit halten.
Ruth schließt die Tür auf und wehrt den überschwenglichen Flint ab. Shona bückt sich, um den Kater zu
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