Knochenhaus (German Edition)
streicheln. Sie hat sich oft um ihn gekümmert, wenn Ruth unterwegs war.
«Hallo, Schätzchen, komm zu Tante Shona. Ruth, ich werde die Männer aufgeben und mir eine Katze zulegen.»
Das hat Ruth schon hundertmal gehört. «Katzen sind aber nicht besonders gut darin, die Lichterkette für den Weihnachtsbaum zu reparieren. Oder den Ölstand zu überprüfen.»
«Nein, aber sie können viel besser zuhören.» Shona drückt Flint an sich, der bereits wieder hoffnungsvoll in Richtung Boden schielt.
«Das stimmt allerdings. Und sie lassen die Klobrille nicht hochgeklappt.»
Shona setzt sich aufs Sofa und zieht die Beine an. Sie scheint sich auf ein langes, gemütliches Plauderstündchen einzurichten. Ruth bietet ihr einen Tee an, doch Shona sagt, sie hätte lieber ein Glas Wein. Ruth füllt Chips in eine Schüssel und schiebt sich eine Handvoll davon in den Mund, bevor sie wieder ins Wohnzimmer zurückkehrt.
«Phil hat erzählt, du hättest ein Skelett gefunden», sagt Shona.
«Also, streng genommen haben es die Feldarchäologen gefunden. Auf einem Baugrundstück in Norwich.»
«Die Feldarchäologen? Das Team um diesen durchgeknallten Iren?»
«Ted, ja. Aber der ist doch niemals ein echter Ire. Warum nennen ihn bloß alle so?»
Shonas Augen funkeln. «Lange Geschichte. Aber was ist nun mit dieser Leiche? Gibt es irgendwelche Hinweise auf ein Verbrechen?»
Ruth zögert, obwohl sie weiß, dass Shona für gute Geschichten immer zu haben ist. Wahrscheinlich kommt das automatisch, wenn man sich ständig mit Literatur befasst. Was Shonas Diskretion betrifft, ist sich Ruth allerdings längst nicht so sicher. Und sie legt definitiv keinen Wert darauf, dass Phil im Rahmen irgendeines heißen Bettgeflüsters die ganze Geschichte zu hören bekommt. Andererseits brennt sie darauf, jemandem davon zu erzählen.
«Der Kopf wurde abgetrennt», sagt sie.
«Nein!» Shona macht kugelrunde Augen. «Heißt das, es war ein Ritualmord?»
Ruth mustert Shona erstaunt. Seltsam, dass ausgerechnet das ihre erste Frage ist. Oder auch nicht, wenn man bedenkt, wie intensiv auch sie mit Erik zu tun hatte, dem führenden Experten für Rituale, Opfer und Blutvergießen. Dennoch hat Ruth das Gefühl, dass die wenigsten Menschen einen kopflosen Leichnam gleich mit einem Ritualmord in Verbindung bringen würden.
«Möglich», sagt sie. «Die Römer haben hin und wieder Janus Opfer gebracht, dem Gott der Schwellen. Und diese Leiche lag unter einer Türschwelle.»
«Dann ist sie also aus römischer Zeit?»
«Das wissen wir erst, wenn wir eine Datierung vorgenommen haben. Natürlich kann sie aus der Römerzeit sein oder aus dem Mittelalter, aber das glaube ich nicht. Der Grabstich wirkt deutlich neuer.»
«Janus. Ist das nicht der Typ mit den zwei Gesichtern?»
«Ja. Der Gott des Anfangs und des Endes. Der Monat Januar ist nach ihm benannt.»
Shona fröstelt. «Klingt irgendwie unheimlich. Aber wenn man darüber nachdenkt, haben ja die meisten Männer zwei Gesichter.»
«Wie läuft’s denn so mit Phil?»
Shona lächelt traurig. «Schenk uns ein Glas Wein ein, dann erzähle ich es dir.»
Ruth gießt Wein in zwei Gläser und hofft, dass Shona nicht merken wird, wenn sie fast nichts von ihrem trinkt. Von Wein wird ihr neuerdings immer schlecht. Fast kommt es ihr vor, als würden ihre Geschmacksnerven das Getränk in seine einzelnen Komponenten zerlegen: saure Trauben, vergorener Alkohol, ein Hauch von Weinlaub. Sogar die Füße der Weinbauern glaubt sie noch durchzuschmecken.
Phil hat Shona offenbar sein unfreundlicheres Gesicht gezeigt. Er will, dass sie ihn auf eine Konferenz nach Genf begleitet, besteht aber darauf, dass sie getrennt hinfahren und sie ihre Reise selbst bezahlt. Ruth verbeißt sich ein Grinsen. Phils Geiz ist am Fachbereich legendär. Er behauptet, Shona zu lieben, beruft sich aber immer wieder auf die «Hinfälligkeit» seiner Frau, als wäre Shona dafür verantwortlich, dass sie sich nicht zu sehr aufregt.
«Grundsätzlich wäre das ja auch in Ordnung, nur weiß ich leider, dass sie eine echte Rossnatur hat. So sieht sie übrigens auch aus. Wie ein Pferd. Ein ziemlich hässliches Pferd sogar … Ruth, du trinkst ja überhaupt nichts.»
Ruth mustert schuldbewusst ihr Glas, an dem sie nur ein paarmal widerwillig genippt hat. Shona dagegen hat ihres bereits ausgetrunken.
«Ist alles in Ordnung mit dir?»
Das fragt neuerdings anscheinend jeder. Plötzlich verspürt Ruth den unwiderstehlichen Drang, Shona zu erzählen,
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