Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
»Lass dir eine Lehre sein, was mit unserem peruanischen Freund passiert ist. Streck den Kopf nie zu weit raus.«
Den Rest des Tages verbrachte ich mit unserem peruanischen Freund. Röntgenaufnahmen bestätigten, dass der Schädel wirklich menschlich war, nicht der eines Hundes oder eines Vogels, so wie sie Fälscher normalerweise verwenden. Ich fotografierte, schrieb meinen Bericht und rief dann den Dekan der Anthropologischen Fakultät der McGill-Universität an. Er versprach, den entsprechenden Experten zu suchen.
Um zwei kam Robert Gagné in meinem Büro vorbei, um mir zu sagen, dass die Profile bald fertig seien. Ich war über sein Tempo bei den Katzenhaaren so überrascht wie ich es bei Susanne mit dem Schädelguss gewesen war. Polizisten mussten Wochen auf DNS-Resultate warten.
Gagnés Reaktion war gleich der Susannes. Das Projekt sei außergewöhnlich. Es fasziniere ihn. Deshalb habe er sich beeilt.
Um drei war ich unterwegs nach St. Hubert.
Um halb fünf fuhr ich nach Hause, die Replik des Paraíso-Schädels in einer Schachtel neben mir. Die Rekonstruktion des Gesichts war nun meine Aufgabe.
Der dichte Verkehr strapazierte Brems- und Gaspedal. Ich zog entweder am Schalthebel oder trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad. Nach einer Weile stand ich mehr als ich fuhr. Auf der Victoria Bridge ging schließlich gar nichts mehr, und ich saß fest, inmitten einer vierspurigen Blechlawine.
Ich stand seit zehn Minuten dort, als mein Handy klingelte. Froh über die Ablenkung, griff ich sofort danach.
Es war Katy.
»Hi, Mom.«
»Hi, Liebling. Wo bist du?«
»In Charlotte. Meine Seminare sind zu Ende.«
»Das ist aber ziemlich spät, oder?«
»Ich musste meine Arbeit für das Methodikseminar noch fertig machen.«
Katy studiert im fünften Jahr an der University of Virginia. Obwohl intelligent, witzig, attraktiv und blond, war meine Tochter noch unsicher, was das Leben ihr zu bieten hatte, und sie musste sich erst noch für eine Richtung entscheiden.
Was hatte das Leben ihr nicht zu bieten? In dieser Hinsicht war ich mit meinem Ex-Gatten einer Meinung.
»Was hast du untersucht?«, fragte ich und legte den Gang ein, um fünfzig Zentimeter vorwärts zu fahren.
»Die Wirkung von Käse-Crackern auf das Rattengedächtnis.«
Psychologie war im Moment ihr Hauptfach.
»Und?«
»Sie lieben das Zeug.«
»Hast du dich fürs nächste Semester eingeschrieben?«
»Ja.«
»Jetzt geht’s langsam dem Ende zu, was?« Pete und ich finanzierten unserer Tochter zwölf Semester, damit sie den Sinn des Lebens herausfinden konnte.
»Ja.«
»Bist du bei Dad?«
»Nein, bei dir.«
»Oh?« Normalerweise zog Katy das Haus ihrer Kindheit meinem winzigen Stadthaus vor.
»Boyd ist bei mir. Ich hoffe, das ist okay.«
»Klar. Wo ist Birdie?«
Ich ruckelte zwei Meter vorwärts.
»Auf meinem Schoß. Deine Katze ist nicht gerade verrückt nach Boyd.«
»Nein.«
»Ist Dad nicht da?«
»Nein, aber sie kommen heute zurück.«
»Sie?«
»Ups.«
»Schon okay.«
»Er hat eine neue Freundin.«
»Das ist aber schön.«
»Ich glaube, ihr BH ist größer als ihr IQ.«
»Da kann sie nichts dagegen machen.«
»Sie mag keine Hunde.«
»Dagegen kann sie schon was machen.«
»Wo bist du?«
»Montreal.«
»Bist du in einem Auto?«
»Ich rase mit Lichtgeschwindigkeit dahin.«
Ich schlich jetzt mit zwölf Meilen pro Stunde.
»Woran arbeitest du gerade?«
Ich erzählte es ihr.
»Warum verwendest du nicht den echten Schädel?«
Ich erzählte ihr von Díaz und Lucas und dem beschlagnahmten Skelett.
»Ich hatte einen Soziologieprofessor namens Lucas. Richard Lucas.«
»Meiner heißt Hector.«
Ich wusste, was kam, kaum dass ich das gesagt hatte. In ihrem gesamten fünften Lebensjahr war Katy ganz versessen auf einen Kinderreim. Den rezitierte sie jetzt in einem Singsang.
Hector Protektor trug immer nur Grün, Hector Protektor musste zur Queen …
»Hector Dissektor macht alles nur hin«, steuerte ich bei.
»Nicht gut.«
»Ist eine erste Fassung.«
»Mach keine zweite. Die Poesie sollte nicht leiden müssen, nur weil du frustriert bist.«
»Hector Protektor ist auch nicht gerade Coleridge.«
»Wann kommst du wieder nach Charlotte, Mom?«
»Weiß ich noch nicht. Ich will erst noch zu Ende bringen, was ich in Guatemala angefangen habe.«
»Viel Glück.«
»Hast du einen Ferienjob?«
»Bin gerade am Suchen.«
»Viel Glück.«
Gagné rief an, als ich in meine Einfahrt einbog.
»Wir haben eine
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