Kölner Kreuzigung
Achseln und vertiefte sich in die Akte. Schon bald fand er, wonach er gesucht hatte. Die Kopie eines Praktikumsberichts, vor allem aber eine Inventarliste der im Krieg verschollenen Bilder des Museums, zusammengestellt von eben diesem Praktikanten des Museums. Eine Fleißarbeit ohne Anspruch, allerdings mit möglicherweise weitreichenden Folgen.
Als Marius einige Stunden später das Museum wieder verließ und an der Haltestelle Heumarkt auf eine Bahn in Richtung Neumarkt wartete, schenkte er den roten Kästen, in denen die Boulevardzeitungen ihre Ausgaben zum Verkauf anboten, zunächst kaum Beachtung. Doch das Foto, das eine der beiden Zeitungen auf die Titelseite gepackt hatte, irritierte ihn. Tatsächlich brauchte er einen Moment, um zu begreifen, dass er sein eigenes Bild betrachtete. Er trug die Haare deutlich länger als heute und sah wesentlich jünger aus, aber er kannte das Foto und fragte sich, wo die Presseleute es überhaupt herbekommen hatten.
Schließlich erinnerte er sich daran, dass er vor Jahren einmal einen Account in einem Internetverzeichnis für Studenten angelegt hatte. Im Enthusiasmus des ersten Semesters. Seit fast genauso langer Zeit hatte er in diesen Account nicht mehr hineingeschaut. Jedoch hatte er auch nie darüber nachgedacht, ihn zu löschen.
Mit Erstaunen schaute er auf diese alte Version seiner selbst, die auf einmal wieder so aktuell war. Er sammelte sein Kleingeld zusammen, warf es in den Münzeinwurf des Kastens und nahm eine Zeitung heraus. In der Bahn las er den Artikel mit wachsender Fassungslosigkeit. Noch während des Lesens achtete er darauf, dass das Foto auf der ersten Seite für die anderen Fahrgäste nicht sichtbar war. Der Text war eine geschickt zusammengestellte Auflistung von altbekannten Fakten, vagen Aussagen des Staatsanwaltes, mit dem Marius Sandmann vor Kurzem noch gesprochen hatte, und Vermutungen und Zuspitzungen seitens des Schreibers. Es entstand der Eindruck, als wisse Marius mehr über den Mord an Brock, als er der Polizei gegenüber zugegeben hatte, und schuf damit den Eindruck, er, Marius, habe Brock getötet.
Am Neumarkt stieg er aus der Bahn aus, die Zeitung zusammengerollt in der Jackentasche, und verschwand in der anonymen Masse, die die enge und nasse Treppe hinab in die U-Bahn-Station stieg. Er konnte nur hoffen, dass ihn niemand aufgrund des Fotos erkannte. Was sollte er jetzt tun? Eigentlich müsste er auf direktem Wege zur Polizei gehen, dachte Marius. Ihnen seine Hinweise präsentieren und ihnen die restliche Arbeit überlassen.
Aber er vertraute den Polizisten, die er bisher in diesem Fall getroffen hatte, nicht besonders. Nicht dem schlaksigen, in allem vagen Hauptkommissar, schon gar nicht der kleinen, schlecht gelaunten Kommissarin. Der Staatsanwalt, der offensichtlich mit dem Fall betraut war und der Presse gegenüber vage Andeutungen über seine Rolle in dieser Geschichte gemacht hatte, war ebenfalls nicht sehr vertrauenswürdig. Außerdem hatte er der Polizei bereits gesagt, was er wusste. Nur hatten sie ihm nicht geglaubt, und er bezweifelte stark, dass sie es nun tun würden. Warum sollten sie? Er hatte nicht mehr als einen Zusammenhang zwischen einem von Albertis Partygästen und dem Wallraf. Einen Mord konnte er damit nicht beweisen, und das wusste er. Er würde allein weiter ermitteln müssen. Unter dem Fahndungsdruck einer ganzen Stadt.
Mit dem Rücken zum Bahnsteig und den anderen Wartenden, studierte Marius die Fahrplanaushänge. Die Kapuze hatte er sich über den Kopf gezogen, in der Hoffnung, so die Gefahr zu verringern, entdeckt zu werden. Nachdem seine Bahn nach Ehrenfeld durchgesagt wurde und er hinter sich das Geräusch des einfahrenden Zuges hörte, drehte er sich um, und ging mit gesenktem Kopf über den Bahnsteig, um in die hinterste Tür einzusteigen. Zum Glück fand er einen Platz in der vorletzten Reihe mit Blick auf die rückwärts liegende Fahrerkabine, sodass er von den meisten Fahrgästen nicht gesehen werden konnte.
Am Friesenplatz stiegen zwei Schülerinnen ein und setzten sich ihm gegenüber. Sie musterten ihn neugierig. Marius nahm die Zeitung aus der Tasche und schlug sie so auf, dass die Titelseite nicht zu sehen war, er aber sein Gesicht unauffällig hinter ihr verstecken konnte. Der Bericht, den er aufgeschlagen hatte, fesselte seine Aufmerksamkeit fast genauso wie die Titelseite: ›Was macht ein Stadtrat im Bordell?‹, lautete die Schlagzeile, daneben ein Foto von Walter Hochkirchen, wie er
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