Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
setzte der Ritter einen Fuß auf das Eis. Es schien fest wie Fels zu sein. Er wagte einen ersten Schritt. Noch mehr als zweihundert weitere Schritte trennten ihn vom anderen Ufer.
Vorsichtig ging er weiter, stieg über scharfkantige Eisbarrieren, schlitterte über die glatte Oberfläche, wo der Wind den Schnee fortgeweht hatte, und hielt den Blick die ganze Zeit über fest auf die gelben Lichter am Ufer gerichtet. In der Mitte des Flusses spürte er das Eis unter den Füßen zittern. Selbst durch den dicken Eispanzer hörte man das Sprudeln des Wassers. Einmal schien etwas direkt unter ihm mit Gewalt durch die Eisdecke stoßen zu wollen. Dann hörte er ein dumpfes, kratzendes Geräusch, das sich mit der Strömung nach Norden entfernte. Vielleicht eine Eisscholle, die unter der Oberfläche trieb. Hartmann beschleunigte seine Schritte. Immer mehr ängstigten ihn die Geräusche auf dem Fluss. Schließlich begann er zu laufen. Er stürzte auf dem Eis und stieß sich an scharfen Kanten. Doch seine Angst trieb ihn weiter. Als er das Ufer erreichte, war er trotz des grimmigen Frosts nassgeschwitzt. Doch ein einziger Augenblick stillen Verharrens genügte, und mit dem Wind
kehrte die Kälte zurück. Hätte er nackt im Schnee gestanden, er hätte nicht mehr frieren können.
Mit letzter Kraft stürmte er die Uferböschung hinauf. Rechts von ihm erhob sich ein Kirchturm, dahinter lockten die goldgelben Lichter. Sie gehörten zu einer Schenke. Das musste das Haus sein, von dem Ingerimm gesprochen hatte.
Im Inneren des Wirtshauses drängten sich erstaunlich viele Gäste. Der Raum war groß, wirkte durch seine niedrige Decke aus altersschwarzen Balken jedoch bedrückend. In einer Ecke saß ein Spielmann und klimperte lustlos auf seiner Laute. Niemand schenkte ihm Beachtung.
Hartmann trat dicht an den großen, gemauerten Kamin und streckte seine Hände den Flammen entgegen. Langsam wich die Kälte aus seinen Gliedern, Schnee tropfte von seinem Umhang und verlor sich in dem frisch gestreuten Stroh auf dem Boden.
Ein großer Mann mit schwarzlockigem Haar und mächtigem Bart stellte neben Hartmann einen hölzernen Humpen auf den Tisch.
Der Ritter sah ihn fragend an.
»Bier! Was anderes gibt es hier nicht. Wasser findest du draußen am Brunnen, aber es ist so kalt, dass es dir die Zähne im Maul zerspringen lässt.«
Als Hartmann nicht gleich antwortete, rückten die dicken Brauen des Schankwirts drohend zusammen. »Du bist doch hier, um zu trinken?«
»Natürlich.« Zur Bestätigung griff Hartmann nach dem Humpen und nahm einen tiefen Schluck. »Ich suche jemanden«, fuhr er forsch fort. »Eine Frau, und ich würde …«
»Zum Tratschen über Weiber habe ich keine Zeit. Du siehst doch, dass die Stube voll ist.« Der Wirt verschwand
hinter der Theke und begann eine Reihe leerer Humpen zu füllen.
»Du suchst eine Frau?« Der Spielmann trat an den Kamin und entlockte seinen Saiten einen dramatischen Akkord. »Dir kann geholfen werden, Fremder.« Er lächelte breit und zeigte einen Mund voller faulender Zahnstümpfe. »Überlässt du mir dein Bier?«
»Nicht irgendein Weib. Sie heißt Clara und …«
Der Barde lachte. »Bei der alten Jungfer wirst du kaum Erfolg haben. Die grüßt dich mit den Spitzen ihrer Mistforke, wenn du ihr falsch kommst. Wer hat dir denn den Floh ins Ohr gesetzt?«
Zwei Humpen später wusste Hartmann alles über die Kniproderin, wie man sie hier nannte. Obwohl Clara vor mehr als zwanzig Jahren hierhergekommen war, sah man in ihr immer noch eine Fremde. Offenbar führte sie östlich der Stadt ein großes Rittergut, das es in den Jahren ihrer Wirtschaft zu einigem Reichtum gebracht hatte. Nach der Erzählung des Spielmanns hatte sie in der Vergangenheit auch mehrfach heiratswillige Männer abgewiesen. Eine ganze Reihe von Munheimern hatte Interesse daran gehabt, auf diese Weise zur Lehnsherrschaft zu gelangen.
Etliche Geschichten rankten sich um Clara. In die Stadt kam sie nur, um an der Messe teilzunehmen. Gelegentlich erhielt sie Besuch von einem alten Cölner Kaufmann, der auch die Überschüsse ihres Gutshofs erwarb.
Angeblich wartete die Jungfer auf einen Ritter, der ins Heilige Land gezogen war. Tatsächlich erschien jedes Jahr zur Dreikönigszeit ein geheimnisvoller schwarzer Mönch.
Je länger er zuhörte, desto beklommener fühlte sich Hartmann. Die Geschichte Ingerimms begann Wirklichkeit zu
werden und bis in sein eigenes Leben zu greifen. Der Alte hatte ihm eine Rolle in diesem Stück
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