Koenigin der Meere - Roman
Anne hielt inne und hob die rechte Hand.
»Ich höre Wasser!«
»Mir wäre lieber, du würdest es sehen!«, knurrte Finch und bekam dafür einen Rippenstoß seines Nebenmannes. Anne lauschte angestrengt und zeigte schließlich nach links.
»Es kommt von da vorne.« Die Männer stürmten an ihr vorbei, und kaum eine Minute später hörte Anne triumphierendes Gejohle. Aus einem Felsen ergoss sich klares Quellwasser in ein steinernes Becken, gerade groß genug, dass drei Männer darin Platz hatten. Während die Piraten sich gegenseitig bespritzten, trank Anne langsam und in kleinen Schlucken. Sie dachte an Rackham.
»Leute! Die anderen haben auch Durst. Trinkt so viel ihr könnt, und dann lasst uns zurückkehren. Wenn wir uns beeilen, können wir bis heute Abend alle hier sein und ein Lager aufschlagen.«
Am Abend war es geschafft. Mitsamt ihren Habseligkeiten von den Booten saßen die erschöpften Männer an der Quelle. Calico war auf einer notdürftig gezimmerten Bahre getragen worden. Jetzt ruhte er auf einem Lager, das Anne ihm aus Blättern und Zweigen bereitet
hatte. Sein Zustand machte ihr Sorgen. Der Arm war inzwischen bis über das Ellbogengelenk geschwollen. Deutlich sichtbar kroch ein roter Strich von den zerquetschten Fingern an der Oberfläche der Haut entlang. Rackham befand sich in einem Zustand zwischen Wachen und Ohnmacht. Er fieberte hoch und litt unter Schüttelfrost. Seine Zähne schlugen aufeinander. Anne kühlte seine Stirn mit feuchten Tüchern.
-27-
D as Leben in der Wildnis war ungewohnt. Als Erstes errichteten die Piraten aus Baumstämmen einen Wall zum Schutz vor wilden Tieren. Sie bauten ein Fünfeck, das nur einen Eingang hatte, vor den sie nachts einen dicken Baumstamm schoben. Von Bojo hatte Anne gelernt, Holzscheite so eng und doch luftig zu schichten, dass die Feuer die ganze Nacht glühten und Wärme abgaben, ohne Flammen zu schlagen. Innerhalb des schützenden Walls wurden kleine Hütten gebaut. Auch hier erwies sich als nützlich, was Bojo ihr beigebracht hatte. Junge, biegsame Bäume wurden gefällt, jeweils vier Stämme in die Erde gerammt, oben mit Schlingpflanzen zusammengebunden und mit Palmblättern bedeckt. Die einfachen Konstruktionen boten Schutz vor der sengenden Sonne und hielten sogar Regenschauer ab. Einen der Unterstände hatten die Freibeuter etwas abseits gebaut. Hier lagerten, so weit wie möglich vom Feuer entfernt, Waffen, Pulver und Munition. Stolz zeigte Anne den Männern, wie man mit einfachen Mitteln Gefäße aus Holz und Baumrinde herstellte, und erwarb mit ihrem Wissen den Respekt der Schiffbrüchigen.
Otis Finch hatte sich noch immer nicht mit der Situation abgefunden. Seine schlechte Laune sorgte für Missstimmung.
»Was soll das! Wir bauen Hütten und schnitzen Becher. Wollt ihr euch hier für die Ewigkeit niederlassen? Ich nicht! Ich will weg von dieser verdammten Insel, und zwar so schnell wie möglich!« Anne raunzte ihn an: »Keiner von uns will sein Leben hier verbringen, aber selbst du musst doch einsehen, dass die Boote, die wir haben, nicht ausreichen, um uns alle von hier fortzubringen. Wir wissen ja nicht einmal, wo wir sind. Wir müssen warten, bis das Wetter wieder stabil
wird. Erst dann können wir eine Fahrt über das Meer wagen. Aber ich halte dich nicht. Wenn du unbedingt absaufen willst, nimm dir ein Boot und verschwinde!« Finch schwieg verärgert.
Die Männer bildeten drei Gruppen. Während ein Teil täglich den weiten Weg zum Strand zurücklegte, um Fische zu fangen und nach den Booten zu sehen, jagten andere die wilden Rinder und Schweine, die auf der Insel in kleinen Herden herumzogen. Die dritte Gruppe blieb im Lager, kümmerte sich um Rackham und widmete sich dem Herstellen von Geräten, die man zur Jagd und für das alltägliche Leben brauchte. Nach Annes Schätzung mussten sie mindestens acht Wochen auf der Insel bleiben, erst dann würden sich die immer wieder aufkommenden Stürme legen.
Ängstlich sah sie auf Calico, der mit glühender Stirn zitternd im Schatten lag. Er stöhnte vor Schmerzen und verlor immer wieder das Bewusstsein. Anne wechselte täglich seinen Verband und sah mit Schrecken, dass die drei verletzten Finger immer schwärzer wurden. Unerträglicher Gestank schlug ihr entgegen, wenn sie den Lappen abnahm, um ihn im Quellwasser auszuwaschen. Der rote Strich hatte inzwischen Rackhams Ellbogen erreicht. Sein Arm war so geschwollen, dass sie das Hemd aufschneiden musste, um den Druck zu lindern.
Die
Weitere Kostenlose Bücher