Koenigin der Meere - Roman
besten Stücke vor. Sie nagte an einem Knochen, das Fett troff ihr über das Kinn. Balls beobachtete sie amüsiert. Schuldbewusst wischte sie ihre Finger an der Serviette ab und leckte sich die Lippen.
»Entschuldigung. Ich weiß, dass sich das nicht gehört, aber das beste Fleisch ist direkt am Knochen, und mit Messer und Gabel bekommt man es so schwer ab.« Sie nahm einen Schluck Wein. Balls lächelte.
»Du hast völlig recht, und es ist ja hinreichend bekannt, dass es die Finger gab, lange bevor das Besteck erfunden wurde.« Anne sah ihn erstaunt an.
»Das hat Bojo auch immer gesagt.« Gerade wollte sie anfangen, von Bojo zu erzählen, da winkte Balls Jubilo zu sich, der einige Meter vom Tisch entfernt auf seinem Posten stand und darauf achtete, dass die Gläser niemals leer und die gewünschten Speisen stets in Reichweite waren.
»Komm ein wenig näher, ich muss dir etwas ins Ohr flüstern.« Balls zog den Jungen ganz dicht an sich heran. Jubilo lauschte mit weit offenen Augen, nickte dann beflissen und rannte aus dem Speisesaal. Anne scherzte: »Geheimnisse? Meine Mutter hat immer gesagt, wer flüstert, der lügt.«
»Du wirst gleich sehen, dass auch Mütter sich manchmal irren«, gab Balls fröhlich zurück. Jubilo kam mit einem kleinen Satinbeutel zurück und händigte ihn Balls mit einem Diener aus.
»Ich danke dir, Kleiner, und jetzt lässt du uns allein. Geh schlafen, morgen wird ein sehr anstrengender Tag auch für dich.« Jubilo verbeugte
sich erneut und gehorchte. Balls drehte und wendete das Säckchen in den Händen, dann schob er es über den Tisch.
»Heute vor genau einem Monat hast du dieses Haus zum ersten Mal betreten. Ich bin sehr froh, dich bei mir zu haben, und möchte dir etwas schenken.« Er bedeutete Anne, den Beutel zu öffnen. Sie zog die Schleife auf und griff mit zwei Fingern vorsichtig hinein. Im Kerzenschein des Lüsters funkelte ein Diamantcollier so schön, dass Anne die Tränen in die Augen traten. Sie schubste ihren Sessel nach hinten, sprang auf und fiel Balls um den Hals. Der zog sie auf seinen Schoß, legte ihr die Kette um und küsste sie auf den Nacken.
»Süßer als Kakaokonfekt«, flüsterte er. Anne wusste nicht, ob er den Geschmack der Edelsteine oder ihre Haut meinte.
»Und jetzt geh ein paar Schritte zurück und lass dich anschauen.« Anne fasste sich an den Hals, als hätte sie Angst, die wertvolle Kette könnte sich in Luft auflösen. Dann breitete sie die Arme aus und machte ein paar Tanzschritte.
»Sie macht dich noch schöner, als du ohnehin schon bist. Ich möchte, dass du sie morgen trägst. Wir werden Gäste haben, und ich will, dass sie vor Neid erblassen, wenn sie dich sehen.« Mehr war an diesem Abend nicht aus ihm herauszubekommen.
Am Mittag des folgenden Tages hielt eine Sänfte, getragen von acht Sklaven, vor Charley Balls’ Haus. Mit lautem Getöse und in jedem Arm ein Hafenmädchen stieg kein Geringerer als der legendäre Piratenkapitän Blackbeard aus. Sein schwarzer Bart verdeckte große Teile des vom Alkohol gezeichneten Gesichtes und reichte ihm bis auf die Brust. Anne stand am Fenster und beobachtete die Begrüßung.
»Bleib bitte in deinem Zimmer, bis ich dich holen lasse. Ich möchte, dass du einen glänzenden Auftritt hast«, hatte Charley gesagt. Jetzt stand er vor Blackbeards Sänfte. Die beiden Männer umarmten sich herzlich. Blackbeard kniff seine Begleiterinnen in die Hinterteile, und die beiden Mädchen knicksten höflich vor dem Gastgeber. Unter dröhnendem Gelächter verschwand die kleine Gruppe im Haus. Anne hatte den gefürchteten Seemann sofort erkannt und konnte ihr Glück kaum fassen. Sie würde ihm tatsächlich persönlich begegnen, dem Mann, von dem die ungeheuerlichsten Geschichten erzählt wurden. Angeblich war er als Edward Teach in Bristol geboren worden,
hatte seine Karriere bei der britischen Marine begonnen und war bis zum Ende des Spanischen Erbfolgekriegs mit großem Erfolg als Kaperfahrer Seiner Majestät gesegelt. Als die Zeit des legalen Kaperns mit Kriegsende offiziell vorüber war, hatte er in New Providence bei Kapitän Benjamin Hornigold angeheuert und mit diesem gemeinsam eine ganze Reihe von Schiffen geentert, geplündert und versenkt. Dabei hatte er sich den Ruf, von unberechenbarer Grausamkeit zu sein, erworben, und Blackbeard pflegte ihn durch sein furchterregendes Äußeres.
Anne schaute noch immer aus dem Fenster, als eine prächtige Kutsche vorfuhr. Sie traute ihren Augen nicht, als sie erkannte,
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