Königin der Piraten
an seine Küsse denken müssen. In großen, wütenden Schlucken stürzte sie den Rum hinunter und versuchte so, ihre Seelenqualen im Alkohol zu ertränken.
»Schon wieder dieser schwarzhaarige Teufel?«, fragte Orla leise, denn sie erriet den Grund für ihre Verstimmung.
Ohne eine Antwort starrte Maeve hinaus in die Dunkelheit.
»Er hat also versucht, sich an Euch ranzumachen«, stellte Karena fest. Sie spießte die Mangoschalen mit dem Dolch auf und warf sie über Bord. »Bei welchem Mann war das anders?«
»Ja, Ihr müsst ihm dankbar dafür sein, dass er es versucht hat«, erklärte Jenny.
»Immerhin ist er Euer Märchenprinz«, rief Sorcha von ihrem Platz auf einer der Kanonen herunter. »Da bin ich mir ganz sicher!«
»Genau, Majestät«, stimmte ihre Schwester Aisling zu. »Euer Märchenprinz!«
»Er ist nicht mein Märchenprinz«, versetzte Maeve, knallte ihren Becher auf das Deck und starrte nacheinander in jedes der Gesichter, auf die der Schein der Laternen fiel. »Mein Prinz - Gott, wie ich dieses Wort hasse - wird ein tapferer, nobler,Offizier sein; ehrenhaft, rechtschaffen und ein guter Mensch. Dieser Gray ist nichts als ein Verräter und Spion, und weder das eine noch das andere kann ich gebrauchen! Außerdem«, grollte sie und sah finster in die Nacht hinaus, »bricht er mir nur das Herz. Schon jetzt bringt er mein Blut in Wallung, und ich merke, wie ich mich nach seinen starken Armen sehne, nach seinen Lippen auf meinen! Ich kann, ich will mich nicht in diesen Mann verlieben. Verliebt zu sein macht einen verwundbar, man ist dem anderen ausgeliefert, und er kann einen ausnutzen und dann sitzen lassen!«
»Aber Majestät, seht Ihr nicht, dass er anders ist als die anderen Männer, die Euch den Hof gemacht haben? Keiner von denen war Eurer würdig.«
»Er ist ein Spion!«, rief Maeve verzweifelt. »Ein Verräter! Er hat seine Flotte im Stich gelassen!«
Einzig Enolia, die an der Reling lehnte und sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn wischte, schien auf Maeves Seite zu sein. »Und wenn er seine Flotte im Stich lassen konnte, macht er das mit Euch womöglich auch.«
Niemand sagte etwas. Alle wussten, dass ihre Kapitänin schon oft genug sitzen gelassen worden war. Man konnte es ihr nicht verdenken, dass sie den Männern nicht mehr vertraute. Auch nicht diesem Mann mit seinem verschlagenen Lächeln und dem gefährlichen Charme. Und sie hatte wirklich die Gabe des Sehens - der Himmel mochte wissen, was sie dadurch erfahren hatte.
Enolia stakste zum Fass hinüber, zapfte sich ein großzügiges Quantum Rum, hob den Becher an die Lippen und drehte sich wieder zu den anderen um. »Ich finde, die Kapitänin hat Recht«, erklärte sie. »Lasst ihn uns zu Nelson bringen. Die Briten werden ein hübsches Sümmchen für ihn springen lassen, und sei es nur, um Villeneuve seine Eingeweide hinzuwerfen.«
»Und mit britischem Geld können wir viel mehr anfangen als mit einem britischen Verräter!«, rief Maeve triumphierend. Doch es war ein schaler Triumph, denn tief in ihrem Inneren wollte sie ihren Gefangenen gar nicht ausliefern.
Trotz seines Betragens ihr gegenüber, und obwohl er genau zu wissen schien, wie er sie zur Weißglut bringen konnte, hatte er sie wieder spüren lassen, dass sie eine Frau war, nicht die unbarmherzige Piratin, als die sie sich gab. Er hatte ihr das Gefühl gegeben, schön und begehrenswert zu sein.
Aber nein. Sie hatte ihre Lektionen zu gut gelernt. Er würde ihr nur das Herz brechen, und es war besser, ihn jetzt loszuwerden.
Maeve stand auf, stellte ihren Becher auf dem Kompasshaus ab und trat an die Reling, um hinunter auf die Wellen zu starren, die um den schwarzen Rumpf der Kestrel rollten. Auch Turlough war dort unten und ließ sich an der Wasseroberfläche treiben. Sie konnte den hellen Bauch des Delfins sehen, denn er lag auf der Seite und streckte eine Flosse aus dem Wasser, als wollte er ihr zuwinken. Dann schwamm er unter dem Schoner durch und tauchte auf der anderen Seite wieder auf. In der Dunkelheit klang das laute Schnaufen, mit dem er seinen Atem ausstieß, irgendwie schwermütig.
Maeve ließ den Blick über das Meer schweifen, zum
Strand und hinüber zu dem alten Lagerhaus, das in der Finsternis kaum zu erkennen war - und in dem er saß.
Dann schloss sie die Augen und legte, wie es ihr Vater einst in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort getan hatte, ruhig die Hände auf die Reling ihres Schiffes und lauschte. Doch die Kestrel war
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