Königin der Schwerter
Hacker auch Zugriff auf ihren Laptop gehabt hatte? Aber sie hatte ihn doch sofort ausgeschaltet, nachdem sie die E-Mail abgeschickt hatte. Je länger Sandra darüber nachdac h te, desto verwirrter wurde sie. Irgendwie ergab das alles keinen Sinn.
Eines aber war klar. Der Bericht war ein einziger Trümmerhaufen. Ihn vernünftig zu überarbeiten, würde sie mindestens zwei Stunden kosten. Kein Wunder, dass Martina sich so lautstark darüber b e schwert hatte.
Sandra war so aufgebracht, dass sie sogar den Ärger mit Ivana und Manon vergaß. Diese Report a ge war für sie überlebenswichtig. Jeder Cent davon war bereits verplant. Doppelt sogar, seit sie die Affenskulptur e r worben hatte. Nur gut, dass sie mit der Chefredakte u rin befreundet war. Martina würde ihr sicher eine zweite Chance geben. Sie atmete zwe i mal tief durch und wählte die Nummer der Redakt i on.
6
»… Der große Tempel von Benize lag auf einer Anh ö he, weit oben im rauen Norden, dort wo der Wald in das karge Hochland übergeht.« Die Greisin mit den wirren, schlohweißen Haaren verstummte und starrte in die Flammen, als könne sie dort ein Abbild des Tempels erblicken. »Mit den beiden hoch aufr a genden Türmen und der goldenen Kuppel über dem Heili g tum war er prächtig anzusehen. Erbaut aus schi m merndem Marmor, der aus den Steinbrüchen des S ü dens herbeigeschafft worden war, leuchteten die Ma u ern im Sonnenlicht wie frisch gefallener Schnee. Er war ein so prächtiges Bauwerk, wie es die Welt bisher noch nicht gesehen hatte. Größer als der Tempel von Torpak und doch nicht gefeit gegen das Unheil, das die Priesterinnen von Benize am Ende ereilte.« Sie verstummte. Für endlose Auge n blicke war nur das Knistern des Feuers zu hören.
»Erzähl doch weiter. Bitte, Ulama.« Die Spa n nung stand ihren jungen Zuhörern ins Gesicht g e schrieben.
Auch Tisea lauschte gebannt. Sie war gern in Ul a mas Hütte. Mit ihren siebzehn Wintern war sie eigen t lich schon viel zu alt, um am Feuer der Geschichte n weberin zu sitzen. Aber die Legenden, die sich um die Priesterinnen von Benize rankten, hatten sie schon fasziniert, als sie noch ein kleines Mä d chen gewesen war, und so hatte sie sich auch an di e sem Abend den Kindern angeschlossen, um der Geschichte zu la u schen.
Tief in die Bilder der Vergangenheit versunken, nahm Ulama sich die Zeit, einen Schluck Wasser zu trinken, ehe sie wieder zu sprechen begann: »Es heißt, sie habe es geahnt«, sagte sie scheinbar zusamme n hangslos, ohne den Blick von den Flammen abzuwe n den. »Sie habe es kommen sehen. Als Ei n zige. Aber sie ist nicht geflohen, nein. An der Seite ihrer Getreuen sah sie dem Tod ins Auge. Stolz und aufrecht, wie es sich für eine Hohepriesterin g e ziemt, ging sie den Weg mit ihnen bis zum bitteren Ende.« In der Stimme der Greisin schwang Trauer mit, die auch die Kinder ve r spürten. »Zarife, die letzte Hohepriesterin von Benize, starb grausam u n ter den Schwertern der Angreifer. In einer Nacht aus Blut und Feuer brachen sie wie eine alles verschli n gende Flut über den Tempel herein. Tausende schwer bewaffneter Krieger gegen eine Handvoll Priesterinnen und ihre Getreuen.« Ulama schluckte trocken. »Nur die Raben sahen, wie sie sta r ben.«
»Hat denn niemand überlebt?«
»Überlebt?« Ein sprödes Geräusch, das an tr o ckenes Pergament erinnerte, entfloh Ulamas Kehle. »O nein. Die Zerstörung war vollkommen. Noch in der gle i chen Nacht brannten die Angreifer den Te m pel bis auf die Grundmauern nieder und warfen die Leichen der Priesterinnen in die Flammen. Nichts blieb außer ve r kohlten Mauern und Asche, die der Wind zerstreute. Allein Zarifes Körper verschonten sie. Ihr Leichnam sollte in Torpak öffentlich ve r brannt werden, um dem Volk zu zeigen, dass die Schlacht gewonnen und das Reich von Benize für alle Zeiten zerschlagen war.« Ulamas Lippen be b ten, als könne sie den geschändeten Körper der H o hepriesterin im Geiste vor sich sehen.
»Das ist aber eine traurige Geschichte«, sagte ein rothaariges Mädchen.
»Ja, das ist es.« Die Geschichtenweberin nickte b e dächtig. »Aber sie ist nicht ohne Hoffnung.«
»Tot ist tot«, meinte ein Junge knapp. »Da gibt es keine Hoffnung.«
»Was wisst ihr schon vom Tod?« Ulama stieß e i nen rauen Seufzer aus und fuhr dann fort: »Ich habe mehr Winter erlebt als ihr alle zusammen. Ich habe gesehen, wie die Zukunft Geschichte wird. Ich weiß, wovon ich spreche.«
Der Junge biss sich auf die
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