Königin der Schwerter
Kindesalter entwac h sen war, waren es für ihn nichts weiter als Schauermä r chen, die die Eltern ihren Kindern erzählten, damit sie des Nachts im Haus blieben und bei Tage nicht so weit fortliefen. Niemals hätte er es für möglich geha l ten, dass auch nur ein Funken Wahrheit in den G e schichten stecken könnte. »Wie viele?«, fra g te er. »Wie viele haben sie noch aus unserem Dorf geholt?«
»Sie war die Erste seit dreißig Jahren.« Allvar hust e te und spie den Rest der Rinde in das Feuer. »Und bisher auch die Letzte. Man sagt, wenn die Zehnte der Blutslinie ein Mädchen ist, kommen sie sie holen. Jungen sind vor ihnen sicher.«
»Aber warum?«
»Ja, warum? Wer kann das sagen?« Allvar seufzte erneut, biss noch ein Stück Baumrinde ab und begann zu kauen. »Ulama hätte es dir vermutlich sagen kö n nen, aber sie hat ihr Wissen mit ins Grab genommen.«
»Wie so vieles.« Hákon nickte betrübt, dann fas s te er einen Entschluss. »Ich werde sie suchen«, e r klärte er, und es klang wie ein Schwur.
»Wen? Deine Schwester?« Allvar starrte Hákon an, als sei er verrückt geworden. »Junge, das ist zwanzig Jahre her. Sie ist längst tot. Ich will dir nicht zu nahe treten, aber was glaubst du, bedeutet es wohl, wenn es heißt, ›den alten Glauben mit uns e rem Blut am Leben zu halten‹?« Er fuhr sich mit dem Finger an der Kehle entlang. »Du wirst nichts finden da oben. Glaub mir.«
»Ich werde sie suchen«, erklärte Hákon noch ei n mal, als hätte er Allvars Worte nicht gehört. Ve r gessen war die Pflicht der Totenwache, vergessen die Pflicht, dem Ruf des obersten Regenten Folge zu leisten. Hákon wusste, dass er es nicht einen Tag länger würde ertragen können, mit der Ungewissheit zu leben. Mehr noch, er war es seiner Mutter schu l dig, das zu tun, was sein Vater niemals gewagt hatte. Er würde herausfi n den, was mit seiner Schwester geschehen war.
***
Niemals zuvor war Aideen im Herzen der Höhlen gewesen, obwohl diese ihre Heimat waren, solange sie sich zurückerinnern konnte. Denn hier, wo seit Jah r hunderten der unversehrte Körper Zarifes auf die Rückkehr seiner Seele wartete, hatten nur wenige Au s erwählte Zutritt. Aideen konnte ihr Glück kaum fa s sen. Niemals hätte sie es für möglich geha l ten, dass sie so schnell mit eigenen Augen würde sehen können, was den meisten ihr ganzes Leben lang verborgen blieb.
Ehrfürchtig folgte sie Bethia durch die Korridore und beobachtete in gespannter Erwartung, wie die Seherin kraftvoll die vom Alter gezeichneten Holzt ü ren öffnete, die das Heiligtum von jenen Bereichen der Höhlen trennten, die jeder Hüterin zugänglich waren. Dahinter herrschte eine seltsam bedrückende Düste r nis, wie Aideen sie nie zuvor gesehen hatte. Allein hä t te sie es nicht gewagt einzutreten, aber Bethia schien sich nicht daran zu stören. Mit geübten Bewegungen zündete die Seherin eine kleine Ölla m pe an und durchschritt die Türöffnung. Die Lampe spendete nur wenig Licht, gerade genug, dass A i deen die feine Staubschicht erkennen konnte, die den Boden jenseits der Tür bedeckte und die wie Dampf unter ihren F ü ßen aufstieg, als sie eintraten.
Bethia verlangsamte ihre Schritte, während sie dem gewundenen, stetig nach unten führenden Ko r ridor folgte. Es war still hier, unheimlich still. Aideen kon n te weder Bethias noch die eigenen Schritte hören. Es war, als schwebten sie über den Boden dahin, obwohl ihre Spuren im Staub deutlich zu e r kennen waren.
Mit den Blicken versuchte Aideen die Schatten zu durchdringen, die sich mit dem Zwielicht der kle i nen Lampe vermischten und mit den Wänden der Höhle zu einem undurchdringlichen Dunkel ve r schmolzen. Manchmal glaubte sie aus den Augenwinkeln Bew e gungen darin zu erkennen, ein lautl o ses Gleiten von Schwärze in der Finsternis, das nie wirklich greifbar wurde, sie aber ebenso begleitete wie die geheimnisvoll raunenden Stimmen, die A i deen in der Dunkelheit zu hören glaubte. Stimmen, die keinen Ursprung zu h a ben schienen. Stimmen, die aus der Luft selbst zu kommen schienen und immer gerade dann verstum m ten, wenn sie zu ve r stehen versuchte, was sie wisperten. Gern hätte sie Bethia danach gefragt, aber sie wagte es nicht, die erhabene Stille zu brechen, und verschob es auf sp ä ter.
Der Korridor endete an der Schwelle zu einer ku p pelförmigen Höhle, die völlig im Dunkeln lag. Je n ä her sie der Höhle kamen, desto leiser wurden die Stimmen. Unmerklich fielen
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