Kohlenstaub (German Edition)
doch in
diesem Moment erblickte mich die blonde Untermieterin und sprach mich fröhlich
an: »Fräulein Gerlach, einen schönen guten Abend!«
»Guten Abend«,
grüßte ich förmlich zurück.
»Ich würde Sie
gern zu meiner Geburtstagsfeier einladen, wenn Sie am Samstag noch nichts
vorhaben«, fuhr sie fort.
Ich nickte und
bedankte mich. Dann sah ich zu, wie der schwarze Kater hinter der Blonden im
Flur verschwand. Als hätte ich nicht schon genug Ärger am Hals mit dieser
Familie: Sie mussten mir auch noch ein Tier ins Haus bringen!
SECHS
»Verehrteste!«
Bruno deutete einen Handkuss an, während ich mich bemühte, seinen strengen
Geruch zu ignorieren. »Könnte ein Tag schöner beginnen als mit Ihrem Anblick?«
Turnusgemäß hatte
der Tippelbruder, der mir von allen am liebsten war, heute Morgen wieder einmal
Einlass begehrt: ein Mann unbestimmbaren Alters mit zotteligen Haaren,
gepflegten Manieren und einem Hang zur Theatralik. Kaum hatte ich nach dem
Türklingeln mein obligatorisches »Ja, bitte?« aus dem Klofenster gerufen,
erkannte ich seine knarzende Stimme.
Bruno war ein
kreativer Tippelbruder. Für die eine Mark, die er von mir erhielt, tischte er
mir jedes Mal eine andere Geschichte auf. Einmal waren ihm in der Herberge die
letzten Socken vom Leib gestohlen worden, ein andermal hatte er einem Kameraden
Geld geliehen. Oder es fehlte am Porto für eine Karte zum Geburtstag seines
einzigen Bruders. »Sein fünfzigster, Gnädigste, und wenn ich schon nicht
persönlich erscheinen kann …« Wen interessierte es da schon, ob die Geschichten
erfunden waren. Bemerkenswert, dass er niemals dieselbe zweimal erzählte. Fast
schien es so, als führte er Buch.
Ich schenkte Bruno
eine Tasse frisch aufgebrühten Kaffees ein und legte eine Brotscheibe mit
Margarine daneben. Bruno wärmte sich am Ofen und griff dann zu. Er hielt den
Kopf schief, so als überlegte er, welche Begebenheit er in meiner Küche noch
nicht zu Gehör gebracht hatte.
»Verehrteste«, hob
er wieder an, nachdem er sich gestärkt hatte. Beim Trinken schlürfte er nicht
einmal. »Sie wirken heute so – wie soll ich es ausdrücken – bewölkt um die
Stirn.«
Ich zuckte die
Achseln.
»Darf ich Ihnen
aus der Hand lesen?«
»Nein danke. Ich
glaube nicht an Wahrsagerei.«
»Bedauerlich.
Gerne wäre ich Ihnen zu Diensten. Doch ich befinde mich zurzeit in einer –
sagen wir – finanziell angespannten Situation und hoffe auf Ihre Hilfe.«
Ich seufzte, um
den Schein zu wahren: »Viele klopfen an meine Tür!«
»Gnädigste, auch
der kleinste Betrag hilft!«
Ich durchquerte
den Flur und holte aus der dafür vorgesehenen Schatulle in meinem Amtszimmer
eine Münze.
Bruno nahm die
Mark mit einer formvollendeten Verbeugung entgegen. »Meinen allerherzlichsten
Dank, gnädiges Fräulein!« Er wandte sich ab. Bevor er die Wohnung verließ,
drehte er sich noch einmal um.
»Sie befinden sich
in einer schwierigen Situation«, stellte er fest. »Das Unheil ist nahe bei
Ihnen. Geben Sie gut auf sich acht!«
Als ich eine halbe
Stunde später ebenfalls das Haus verließ, lief mir Frau Jankewicz über den Weg.
Sie versuchte, ihr blaues Auge zu verbergen. »Im Bad ausgerutscht«, murmelte
sie. Manni stob hinterdrein, einen Ball vor sich her dribbelnd. Er grüßte kurz
und lief dann in Richtung Westpark. Das schwarze Katzenvieh ließ sich nicht
blicken.
»Frau – Pastor?«,
fragte der Mittvierziger im eleganten schwarzen Anzug unsicher. Offensichtlich
hatte er einen Mann erwartet. »Gestatten, Hanning mein Name.« Der Bruder sah dem
verstorbenen Pfarrer verblüffend ähnlich. Allerdings wirkte er kräftiger, und
die weißen Haare ließen darauf schließen, dass er der Ältere war.
»Mein herzliches
Beileid. Auch Ihnen, gnädige Frau«, wandte ich mich an die in ein dunkles
Kostüm gekleidete schlanke Brünette an seiner Seite.
Der Mann räusperte
sich. »Ja nun, das kam alles sehr überraschend. Meine Frau und ich sind gestern
Abend aus Stuttgart angereist. Und Sie werden nun meinen Bruder beerdigen.«
»Ja. Es wäre
schön, wenn Sie mir einiges über ihn erzählen könnten.«
In diesem Moment
öffnete sich die Tür, und die alte Frau Hanning betrat das Zimmer. Hinter ihr
erschien Schwester Tabea.
Die alte Frau
steuerte auf mich zu, ohne ihren Sohn zur Kenntnis zu nehmen. »Mein Mann kommt
bald wieder!«, behauptete sie. »Jetzt dauert es nicht mehr lang!« Anders als
vor einigen Tagen war sie ordentlich frisiert und gekleidet.
»Darf ich
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