Kommissar Morry - Die Woelfe
Aufseherin stand noch immer da. Sie machte große Augen, als sie ihren verwandelten Schützling sah. Hübsch, mußte sie zu ihrem Ärger feststellen. Verteufelt hübsch. Dieses Mädchen sieht aus, als hätte es hier nur gefilmt. Die Monate hinter Gittern sind spurlos an ihr vorübergegangen.
„Hier ist Ihr Entlassungsschein“, sagte die leitende Inspektorin. „Und hier ist das Geld, das Sie in den vergangenen neun Monaten verdienten. Es sind genau zwei Pfund, vier Schilling.“
„Zwei Pfund, vier Schilling“, spottete Daisy Horway kopfschüttelnd. „Welch eine riesige Summe. Dafür habe ich nun neun Monate lang Bettvorleger gewebt. Hätte ich das geahnt, wäre ich lieber auf meiner Klappe liegengeblieben.“
Auch diesmal überhörte man großzügig ihre vorlauten Worte.
„Wohin werden Sie jetzt gehen?“, fragte die Inspektorin forschend.
„Na, wohin wohl?“, meinte Daisy Horway achselzuckend. „Zu den Lords natürlich.“
„Zu den Lords? Wer ist das?“
„Das sind meine Freunde. Sie werden noch immer in Busters Hafenasyl herumsitzen. Das ist ein privates Boardinghouse mit einer zünftigen Wirtschaft. Die Lords werden ein paar stramme Runden ausgeben, wenn ich mich aus dem Knast zurückmelde.“
„Daraus wird wohl nichts werden“, sagte die Inspektorin abweisend. „Sie werden jetzt schnurstracks zur Gefangenenfürsorge in der Georges Street marschieren. Dort wird man Ihnen eine Stelle vermitteln und eine Bewährungshelferin zur Seite stellen. Haben Sie verstanden?“
„Kein Wort“, sagte Daisy Horway störrisch und nahm ihren Entlassungsschein in Empfang. „Ich werde in der nächsten Kneipe einkehren und mit einem Whisky den miesen Nachgeschmack der letzten Monate hinunterspülen. So long, meine Damen! Hoffentlich sehen wir uns nie wieder!“
Sprachs, nahm ihr Köfferchen auf und wandte sich in selbstbewußter Haltung zum Gehen. Hinter ihr prasselten noch mahnende Worte auf sie ein. Sie erklangen noch, als sie längst draußen auf dem Flur stand. Die Aufseherin begleitete sie durch vier Gittertore bis zum Ausgang. Dann blieb sie zurück. Das schwere Gefängnistor schloß sich hinter Daisy Horway. Vor ihr tat sich die goldene Freiheit auf. Im Moment war sie allerdings nicht golden, sondern grau und häßlich. Aus einem verhangenen Septemberhimmel troffen kalte Regenschauer nieder. Der Gehsteig vor dem Gefängnis war eine einzige Lache. Die Häuser verschwammen hinter grauem Dunst. Sie hätten mir doch wenigstens einen Schirm mitgeben können, dachte Daisy Horway ärgerlich, als sie schon nach wenigen Minuten pudelnaß war. Sie kehrte in einer kleinen Kneipe ein, trank eine Tasse Tee und zwei Gläser Rum und setzte dann frischgestärkt ihren Weg fort.
Mit dem Bus fuhr sie zur Gefangenenfürsorge in der Georges Street. Sie trat neugierig in das graue Haus, wurde in ein dumpfes Wartezimmer verwiesen und mußte dort neben ein paar langhaarigen Geschöpfen von ihrem Schlag fast zwei Stunden lang warten.
„Glauben Sie etwa, ich hätte meine Zeit gestohlen“, grollte sie verärgert, als sie endlich in das große Dienstzimmer eingelassen wurde. „Ich finde es überhaupt überflüssig, daß man mich hierher schickte. Ich finde auch ohne Sie wieder eine Stelle. Zuletzt habe ich als Bedienung in Busters Hafenasyl gearbeitet. Glaube, daß mich mein alter Boß sofort wieder nehmen wird.“
Nicol Bagger, der Chef der Gefangenenfürsorge, blickte sie bekümmert an. Ratlos rieb er sein fleischiges Doppelkinn.
„Es wurde uns bereits telephonisch gemeldet, Miss Horway, daß Sie sehr schwer zu behandeln sind“, sagte er in weinerlichem Ton. „Was sollen wir nun mit Ihnen anfangen? Welche Dame ist wohl robust genug, Ihr Tun und Handeln in den nächsten Jahren zu überwachen und Sie auf den richtigen Weg zu führen?“
Er gab seiner Sekretärin ein heimliches Zeichen. „Was meinen Sie, Miss Pond?“, fragte er flüsternd. „Wir brauchen eine besonders energische Bewährungshelferin. Wissen Sie jemand, der dafür in Frage kommen könnte?“
Miss Pond warf einen raschen Blick zu Daisy Horway hinüber und schüttelte dann den Kopf.
„Eine Dame wird es niemals schaffen“, sagte sie leise. „Wir müssen einen bewährten Mann nehmen.“
„Einen Mann?“, fragte ihr Chef verblüfft.
„Ja, einen Mann, Sir! Ich würde Richard Cromwell vorschlagen. Er hat schon einige unserer Schäfchen mit größtem Erfolg betreut. Ich glaube, wir können ihm auch dieses Mädchen mit ruhigem Gewissen
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