Kommissar Morry - Opfer des Satans
Die Straßen des berüchtigten Hafenviertels waren auch in dieser frühen Morgenstunde noch ziemlich belebt. Lord Harrow, der in seinem ganzen Leben noch nicht in dieser Gegend gewesen war, blickte schaudernd auf die verwegenen Gestalten. Er sah betrunkene Matrosen, geldhungrige Flittchen und Venustöchter aller Preisklassen. Dazwischen Zuhälter, Eckensteher und die übelsten Ganoven. Das Poplar Dock kam in Sicht. Schwarz schälten sich die Werften aus dem dunstigen Zwielicht. Hoch ragten die Kräne auf. Riesige Stahlgerüste versperrten die Sicht.
„Halten Sie am Eingang der Sobbers Street“, rief Lord Harrow heiser nach vorn.
Der Chauffeur nickte. Er ließ den Wagen ausrollen und brachte ihn hart am Rinnstein zum Stehen.
„Soll ich nicht mitkommen, Eure Lordschaft?“ fragte er höflich.
„Nein. Warten Sie hier auf mich! Ich werde bald zurück sein.“
Der Chauffeur war ihm beim Aussteigen behilflich und blickte ihm dann besorgt nach. Er wollte noch etwas sagen, aber er fürchtete eine erneute Zurechtweisung. Kopfschüttelnd ließ er sich hinter dem Steuer nieder und warf den Schlag zu. Es war das letzte Geräusch, das Lord Harrow laut in den Ohren klang. Dann wurde es still um ihn. Nur das eintönige Winseln des Windes begleitete ihn auf seinem Weg.
Beklommen musterte er die verwahrlosten Häuser zu beiden Seiten der engen Gasse. Er sah nackte Mauern, erblindete Fenster, verödete Fabrikhöfe und verkommene Werkstätten. Das Haus Nummer 14 mußte ganz am Ende der Straße liegen. Es wurde immer finsterer. Die spärlichen Laternen vermochten nicht das lastende Dunkel zu erhellen. Lord Harrow wurde von Schritt zu Schritt unsicherer. Was sollte er denn hier? War es wirklich denkbar, daß Cecil sich in ein solch abscheuliches Viertel begeben hatte, um ausgerechnet hier seinem Leben ein Ende zu machen? Und wenn es so war, warum hatte man ihn dann nicht in ein Hospital geschafft? Warum brachte man ihn in eine Privatwohnung? Was hatte das alles zu bedeuten? Noch ehe Lord Harrow diese Fragen beantworten konnte, hörte er plötzlich ein leises Rascheln hinter einem Mauervorsprung. Erschreckt prallte er zurück. Abwehrend streckte er die Hände vor. Sein Gesicht verlor alle Farbe. Schon im nächsten Moment fühlte er sich brutal umklammert und an die Mauerwand gedrängt. Zwei harte Hände preßten seinen Hals zusammen. Ein Gesicht, das er gut kannte, war ihm höhnisch und in diabolischem Triumph zugewandt.
„Hilfe!“ wollte Lord Harrow rufen. Aber seine Stimme gab keinen Ton mehr. Röchelnd rang er nach Atem. Er bekam keine Luft mehr. Erschöpft sank er in sich zusammen.
In der gleichen Sekunde traf ihn ein Stich in die Herzgegend, daß er mit einem erstickten Aufschrei zu Boden stürzte. Augenblicklich verlor er das Bewußtsein. Es wurde finster vor seinen Augen. Er sollte nie wieder einen Lichtschein sehen. Er merkte es auch nicht, daß die Mordwaffe neben ihm zu Boden klirrte. Es war ein einseitig geschliffener Dolch mit breitem, schlangenförmig ziseliertem Metallgriff.
6
Am nächsten Vormittag erhielt Kommissar Morry vom Sonderdezernat Scotland Yards einen Anruf des Sektionspräsidenten. Der Alte, wie ihn seine Untergebenen respektlos nannten, war wieder einmal gehörig in Schwung. Seine Stimme überschlug sich beinahe vor Erregung.
„Haben Sie schon von dem Mordfall in der vergangenen Nacht erfahren, Morry?“ schrie er laut durch den Draht. „Was sagen Sie zu dieser Schweinerei? Die Presse wird uns gewaltig einheizen, wenn wir die Affäre nicht in kürzester Frist geklärt haben. Lord Harrow war jahrelang Mitglied des Oberhauses und entstammt uraltem Adel. Seine Familie zählt zu den angesehensten des ganzen Königreiches. Wir müssen . ..“
„Darf ich dazu etwas äußern, Sir?“ fragte Kommissar Morry bescheiden.
„Los! Reden Sie! Aber fassen Sie sich kurz. Meine Zeit ist äußerst bemessen!“
„Ich habe von dem Mordfall bereits gehört“, erwiderte Kommissar Morry ruhig. „Wachtmeister Kenton, der hier bei mir am Schreibtisch sitzt, war heute Nacht der Mordkommission zugeteilt. Er hat den Tatort am Poplar Basin genau in Augenschein genommen. Er erzählte mir auch von dem Dolch, der...“
„Das ist ja der Wahnsinn“, schrie der Sektionspräsident aufgebracht. „Wir haben doch erst vor einigen Tagen noch über das Telegramm unserer schottischen Kollegen gesprochen. Sie erinnern sich doch an die Depesche aus Aberdeen, die von einem gewissen Inspektor Holly aufgegeben
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