Komoedie des Alterns
angezündet. Karem habe gesagt, die marokkanische Musik, die sie eben gehört hätten, sei innerhalb der arabischen wohl die schönste. Freudensprung habe vor Müdigkeit nichts darauf sagen können.
Das sei der Beginn ihrer zuerst privaten, dann öffentlichen Konversation über Musik gewesen, die vermutlich in der Volkshochschule deshalb solchen Anklang fand, weil jeder der beiden über etwas sprach, wovon er wenig wußte, Karem über Schubert und später über Alban Berg, Freudensprung über den Einfluß der arabischen Musik auf die frühen europäischen Tonarten, das Phrygische und Lydische, und, sein Lieblingsthema, über dieVielstimmigkeit der Musik in Epochen, in denen feudalistische Einstimmigkeit geherrscht habe, und den Verlust der demokratischen Idee der Vielstimmigkeit in den modernen Demokratien.
Karem, unterbrach Sarani den Freund, sei ein genialischer Mensch, der mit Röntgenaugen durch alle Phänomene sehe, die sich ihm darböten, und davon auch zu berichten wisse: als spreche er vom Skelett der Dinge und zugleich von ihrer Oberfläche. Sarani habe diese Fähigkeit Karems erst bei dessen öffentlichen Gesprächen über Musik entdeckt, wo Karem an Beispielen von Schuberts Musik demonstriert habe, daß hier etwas in Bewegung sei und dennoch stillstehe, was, so habe Karem den Zuhörern erklärt, zu Schuberts Zeit in der Mechanik durchaus möglich gewesen sei, indem ein Zahnrad, von einer gespannten Feder angetrieben, in die folgenden Zahnräder, durch Bewegung eines Hebels, eben nicht einrastete.
Zum Gaudium der Zuhörer, sagte Sarani, habe Heinrich sich angesichts dieser Interpretation an den Kopf gefaßt und sei hinausgelaufen, worauf Karem, ebenfalls belustigt, erklärt habe, daß Freudensprung von Mechanik nichts verstehe und deshalb Schuberts Musik in Zusammenhang bringe mit dem Ende jenes Fortschritts, den die Französische Revolution Europa gebracht habe.
Es sei Karems Idee gewesen, sagte Sarani, nicht länger damit zuzuwarten, Maschinen nach eigener Konstruktion zu produzieren, was dann auch geschehen sei, wobei Karem technische Änderungen zwar vorgeschlagen, aber nicht immer in Zeichnungen habe umsetzen können, wozu er Saranis Unterstützung gebraucht und eingefordert habe.
Mitunter glaube er, sagte Sarani, daß er ein Gründervater sei, der zwar eine Grundlage schaffe, darauf aber nicht das Richtige zu stellen vermöge; dazu brauche es eine neue Generation, Leute wie Karem, aber auch wie Maher, deren Denken, anders als das Saranis, getränkt sei von lebendiger Erfahrung mit diesem Land. Wütend sei er auf Karem nur gewesen, weil der ihn zum Rauchen genötigt habe, doch dieser Zorn habe sich in Rauch aufgelöst.
Freudensprung sagte, er müsse zum Flugzeug, worauf Sarani meinte, es sei zu spät, was Freudensprung zum Widerspruch reizte: Es sei nie zu spät; wenn er diese Maschine nicht erwische, warte er auf die nächste.
Er habe immer bewundert, sagte Sarani und blies den Rauch des Zigarillos über Freudensprungs Kopf, wie es dem Freund gelungen sei, eine Gemeinschaft, von der Zacharias meinte, Heinrich würde sich darin wohl fühlen – mit einer Frau, mit literarischen Weggefährten oder mit politischen Aktivisten – plötzlich, ohne Ankündigung, zu fliehen.
Heinrich könne, fuhr Sarani fort, aus allen Beziehungen desertieren, nicht aber mutwillig von hier abreisen. Um eine Verbindung abzubrechen, müsse es etwas Verbindendes geben. Gemeinhin seien Menschen einander zugetan in Liebe, Sexualität oder durch Interessen – gesellschaftliche, wissenschaftliche, künstlerische. Sie beide, Heinrich und Zacharias, verbinde nichts. Das sei Freundschaft.
Freudensprung war aufgestanden, denn sich von Sarani einen Desperado nennen zu lassen, der, kaum habe er eine Brücke gebaut, sie wieder abreiße, wollte er sich nicht bieten lassen. Da ihn aber schwindelte, mußte ersich setzen. Sarani sagte, nicht ohne Schadenfreude, sie brauchten wohl ein paar Tage Ruhe.
Er nicht, entgegnete Freudensprung, er brauche nur ein paar Stunden Schlaf. Die Schmach, die Sarani, dessen Sohn und Lena ihm angetan hätten, habe ihn beinahe ausgelöscht. Nur beinahe. Seit Freudensprung dem Freund gegenübersitze, sei jeder Augenblick, den sie durchlebt hätten, von der ersten Begegnung im Stahlwerk bis zu ihrem letzten Gespräch in Wien über die neue, die experimentelle Phase des Sozialismus, nachdem dessen erste, die heroische, noch im Idealismus verhaftete Periode zu Ende gegangen sei, in Heinrich derart
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