Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
geirrt.«
»Natürlich nicht«, sagte Skarre bestimmt. Soot neben ihm schüttelte abermals resigniert den Kopf.
Skarre betrachtete die Adresse. »Wir sind sehr dankbar für Ihre Hilfe. Wir werden das alles überprüfen.«
Er legte auf. Sie schauten einander an.
»Dann auf zum Überfall«, sagte Sejer.
Die kräftigen Scheinwerfer eines Autos fegten über den Hofplatz. Gunder fuhr zusammen. Konnte das Karsten sein? Er fuhr sich mit den Händen durch das schüttere Haar und stürzte auf den Flur. Zögernd öffnete er die Tür. Als er den Streifenwagen sah, wich er zurück. Sejer kam mit ausgestreckter Hand die Treppe hoch.
»Herr Jomann?«
»Ja?«
Sejers Händedruck war kräftig.
»Dürfen wir einen Moment hereinkommen?«
Gunder führte seine Gäste ins Wohnzimmer und blieb dort stehen. Er musterte die beiden Männer. Der eine war fast zwei Meter groß und in seinem Alter. Der andere war viel jünger und hatte üppige blonde Locken.
»Sie wissen vielleicht, warum wir gekommen sind?« fragt Sejer.
Gunder stammelte. »Das hat sicher mit dem Unfall zu tun?«
»Sie meinen, mit Ihrer Schwester?«
»Ja.«
»Das mit Ihrer Schwester ist wirklich sehr traurig«, sagte Sejer. »Wie geht es ihr?«
»Ihr Mann ist aus Hamburg zurück. Er sitzt jetzt bei ihr. Er hat versprochen, anzurufen. Sie liegt noch immer im Koma.«
Sejer nickte. »Es geht um etwas anderes.«
Gunder spürte, daß sein Gesicht trostlos nach unten hing.
»Setzen Sie sich doch«, sagte er leise. Hilflos bewegte er die Hände. Sein Körper war wachsam. Er schien weglaufen zu wollen. Sejer und Skarre setzten sich auf das Sofa und sahen sich in dem peinlich ordentlichen Wohnzimmer um. Plötzlich lief Gunder zum Schreibtisch. Sejer sah, daß er sich dort an der Wand an etwas zu schaffen machte.
»Verzeihung«, sagte Gunder und widmete sich wieder den Gästen. »Mußte nur schnell etwas Wichtiges notieren. Im Moment ist einfach zuviel los, es passiert zuviel, ansonsten bin ich ziemlich ordentlich, aber Sie wissen ja, manchmal bricht alles über einen herein und man ist total … total …« Er biß sich auf die Lippe und blickte die beiden ängstlich an.
Sejer sah Jomann in die Augen.
»Wir kommen wegen Ihrer Frau. Ist sie heil hier eingetroffen?«
Gunder schluckte. »Wegen meiner Frau?«
»Ja«, sagte Sejer. »Wegen Ihrer indischen Frau. Wenn wir das richtig verstanden haben, dann sollte sie am 20. in Gardermoen landen, und Sie haben einen Bekannten geschickt, um sie abzuholen. Ist sie angekommen?«
Sejer kannte die Antwort schon. Gunder zögerte. Seine tiefe Verzweiflung war nicht zu übersehen.
»Hat Kalle angerufen?« fragte er kleinlaut.
»Ja«, sagte Skarre. »Können wir irgendwie behilflich sein?«
»Nein, behilflich«, sagte Gunder. »Was könnten Sie schon tun? Es geht einfach alles schief. Ich war seit Tagen nicht mehr bei der Arbeit. Niemand weiß, ob Marie wieder zu sich kommen wird. Oder wie es in ihrem Kopf aussieht, wenn sie wieder zu sich kommt. Ich habe nur sie«, fügte er hinzu.
»Ja«, sagte Sejer. »Und Ihre Frau. Sie sind frisch verheiratet, ist das richtig so?«
Wieder schwieg Gunder. Sejer bedrängte ihn nicht.
»Das stimmt«, sagte Gunder dann leise.
»Sie haben während eines Urlaubs in Indien geheiratet?«
»Ja.«
»Wie heißt sie?« fragte Sejer freundlich.
»Poona«, sagte Gunder. »Poona Bai Jomann.«
Aus seiner Stimme klang ein leichter Stolz.
»Haben Sie irgendeine Vorstellung, warum sie nicht wie verabredet gekommen ist?«
Gunder mußte einen Moment lang aus dem Fenster starren.
»Eigentlich nicht.«
»Was haben Sie bisher unternommen, um sie zu finden?«
»Noch nicht sehr viel. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Soll ich mich auf die Straße stellen und suchen? Und dann ist da noch meine Schwester, die braucht mich doch auch.«
»Hat Ihre Frau vielleicht Verwandte?«
»Nur einen älteren Bruder. In Neu-Delhi. Aber an seinen Namen kann ich mich nicht erinnern.«
Er war plötzlich verlegen. Da hatte er doch tatsächlich den Namen seines Schwagers vergessen.
Sejer spürte ein murrendes Unbehagen im Bauch.
»Was glauben Sie, was kann mit ihr passiert sein?«
»Ach, ich versteh das nicht«, rief Gunder mit plötzlicher Heftigkeit. »Aber ich verstehe immerhin, daß Sie glauben, daß ihr Leichnam draußen auf Hvitemoen gefunden worden ist.«
Gunder begann heftig zu zittern. Skarre schlug die Augen nieder. Zugleich dachte er: Wir kennen diesen Mann nicht. Er ist zutiefst verzweifelt, aber
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