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Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie

Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie

Titel: Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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vielleicht hatte sie scharfe Augen. Außerdem war es um neun noch hell. Sie war mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, nicht mit dem Auto. Im Auto wäre sie in vier oder fünf Sekunden vorbeigewesen. Er wußte auch, daß das, was sie jetzt erzählen würde, vermutlich alles war, was sie noch wußte. Was ihr später noch einfiele, würden sie auf jeden Fall anzweifeln müssen. Der Mensch neigt nun einmal dazu, ein Bild ausfüllen zu wollen, um Harmonie zu erreichen. Innere Harmonie. Was jetzt nur aus Bruchstücken von einem Ereignis bestand, konnte später zu mehr werden. Und er sah, wie gern sie behilflich sein wollte. Skarre kannte sich aus in Zeugenpsychologie, er wußte um die Faktoren, die einen Menschen beim Sehen beeinflussen. »Die Relativität der Eindrücke«. Alter, Geschlecht, Kultur und Stimmung. Die Art, in der Fragen gestellt werden. Außerdem kam sie ihm unkonzentriert und nervös vor. Ihr Körper war dauernd in Bewegung, sie gestikulierte wild und warf den Kopf hin und her. Ihr schweres Parfüm schlug ihm entgegen.
    »Sind Sie allein zu Hause?«
    »Ja«, sagte Linda. »Meine Mutter ist Fernfahrerin. Sie ist fast nie da.«
    »Fernfahrerin? Ich muß schon sagen. Und streben Sie eine ähnliche Karriere an?«
    »Das nennen Sie Karriere?« Sie lachte. »Nie im Leben.«
    Sie schüttelte den Kopf. Skarre dachte an Zuckerwatte, als er ihre hellen Haare sah. Sie setzten sich ins Wohnzimmer.
    »Wo kamen Sie her?«
    »Von einer Freundin. Karen Krantz. Sie wohnt in Richtung Randskog.«
    »Sind Sie eng miteinander befreundet?«
    »Wir kennen uns seit zehn Jahren.«
    »Gehen Sie in dieselbe Klasse?«
    »Ich fange übermorgen mit dem Hauptfach Friseurin an, Karen will Sozialkunde machen. Aber bisher waren wir immer in derselben Klasse.«
    »Was haben Sie bei Karen gemacht?«
    »Uns ein Video angesehen«, sagte Linda. »Titanic.«
    »Ach«, sagte Skarre. »Mit Di Caprio. Ziemlich romantischer Film, nicht wahr?«
    »Schrecklich romantisch«, sagte Linda und lächelte. Er sah, wie ihre Augen funkelten.
    »Mit anderen Worten, Sie waren ziemlich romantisch gestimmt, als Sie Karen verlassen haben?«
    Sie zuckte kokett mit den Schultern. »Das kann man wohl sagen. Sehr romantisch.«
    Und deshalb hast du geglaubt, sie spielten, dachte Skarre. Du hast gesehen, was du sehen wolltest, worauf dein Gehirn eingestellt war. Einen Mann, der hinter einer Frau herlief, um sie zu lieben.
    »Wo waren Ihre Gedanken, als Sie die Straße entlangfuhren? Wissen Sie das noch?«
    »Nein.« Sie zögerte verlegen. »Ich habe doch vor allem an den Film gedacht.«
    »Sind Ihnen unterwegs Autos begegnet?«
    »Nein«, sagte sie energisch.
    »Als Sie sich Hvitemoen genähert haben. Was haben Sie da als erstes gesehen?«
    »Den Wagen«, sagte sie. »Als erstes habe ich den Wagen gesehen. Er war rot und stand schräg. Als ob er ganz plötzlich angehalten hätte.«
    »Weiter«, sagte Skarre. »Versuchen Sie, ganz frei zu reden. Vergessen Sie, daß ich zuhöre.«
    Linda blickte ihn verwundert an. Das war doch total unmöglich.
    »Ich habe mich nach Leuten umgeschaut. Der Wagen mußte doch jemandem gehören. Und da sah ich zwei Menschen auf der Wiese, fast schon im Wald. Sie rannten. Weg von mir. Den Mann konnte ich deutlicher sehen, er verdeckte sie. Er hatte am Oberkörper etwas Weißes an. Ein weißes Hemd. Er fuchtelte heftig mit den Armen. Ich hatte den Eindruck, daß er den wilden Mann spielte oder so.«
    Sie verstummte, denn in Gedanken hatte sie sich wieder abgewandt und näherte sich dem Auto.
    »Konnten Sie auch die andere Person sehen?«
    »Sie war kleiner als er. Und dunkel.«
    »Dunkel? Was war dunkel?«
    »Alles war dunkel. Haare und Kleider.«
    »Aber Sie sind sich ganz sicher, daß es eine Frau war?«
    »Sie lief wie eine Frau«, sagte Linda einfach.
    »Haben Sie die Hände des Mannes gesehen? Hielt er etwas in der Hand?«
    »Ich glaube nicht.«
    »Weiter.«
    Skarre machte sich keine Notizen. Jedes Wort war wie eingeätzt.
    »Plötzlich stand mir der Wagen im Weg. Ich mußte ausweichen. Und dann habe ich noch einmal hinübergeschaut. Der Mann hatte sie eingeholt, und sie fielen beide um. Fielen ins Gras.«
    »Sie müssen doch halbwegs versteckt gewesen sein, wenn Sie sie von der Straße aus gesehen haben. Oder konnten Sie noch mehr sehen?«
    »Der Mann war, äh, oben«, sagte sie und errötete leicht. »Ich konnte Arme und Beine sehen. Aber dann schlingerte mein Rad, und ich mußte mich auf die Straße konzentrieren.«
    »Konnten Sie etwas

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