Kopernikus 6
Tunika. Die Füße trommeln ein letztes Mal auf den Boden und wühlen die Erde klumpenweise auf.
Ich versuchte verzweifelt zu verstehen. Ich hatte nicht zum ersten Mal jemanden getötet, und nie hatte es mich gestört, außer im Schlaf. Ich hatte es mechanisch getan, mit einer vom Haß gestärkten Routine und mit von der Routine gedämpftem Haß. Ich fragte mich, ob diese Nacht jemals enden würde. Ich dachte daran, wie ich vom Berg aus den Morgen hatte aufgehen sehen. Ich glaubte nicht, daß die Nacht zu Ende gehen würde. Und wieder berührte ein großer Gedanke meinen Geist.
Die Stadt, vom Fels verschlungen.
Der Kadett, wie er fiel, mit ausgebreiteten Armen.
Wieso immer der Kadett zusammen mit der Stadt? Hatte das eine mich für das andere sensibel gemacht? Und wenn ja, welches für welches? Ich zögerte.
War vielleicht beides gleich wichtig?
Einer der anderen Truppführer pfiff.
Wir schraken auf, noch angespannter jetzt, als wir es zuvor schon gewesen waren. Der Pfiff ertönte noch einmal, ein zwitschernder Laut, der auf der Stille schwamm wie Öl auf dem Wasser. Jemand kam heran. Nach einer Weile hörten wir im Unterholz des Berghanges ein Rascheln und Knacken, das sich näherte. Wer immer das sein mochte, er gab sich keine Mühe, leise zu sein. Im Gegenteil, er schien blindlings voranzustürmen und unter lautem Krachen durch das Dickicht zu brechen. Goth und ich wandten uns dem Geräusch zu, nahmen unsere Pistolen hoch und entsicherten sie. Das war Instinkt. Ich fragte mich, wer vom Berg herunter auf uns zukommen konnte. Das war Vernunft. Heynith verrenkte sich, um die gegenüberliegende Richtung zu decken, und stützte seine Waffe auf den Rand des Sattels. Das war Vorsicht. Der Störenfried passierte unsere Position in etwa zwei Metern Entfernung, verdeckt von den Büschen. Ein paar Schritte weiter unten, oberhalb eines Geröllhanges, der sich ins Tal hinabzog, gab es eine offene Stelle. Wir beobachteten sie aufmerksam. Das Gebüsch am Rande der Lichtung schwankte, teilte sich. Eine Gestalt stolperte ins Licht der Sterne.
Es war ein Null.
Goth atmete tief ein und ließ Luft zischend zwischen seinen Zähnen herausströmen. Heynith zeigte keine Reaktion, aber ich konnte mir vorstellen, wie seine Augen hinter den dicken Linsen schmal wurden. Mein Kopf war etwa drei Herzschläge lang völlig leer. Dann, überrascht: ein Null! Ich riß den Lauf meiner Waffe hoch. Dann, verständnislos: ein Null? Ich ließ die Mündung sinken. Eine Sekunde lang nichts, dann: wie? Und zaghaft noch einmal: wie? Meine Gedanken kräuselten sich verwirrt, und der Lauf meiner Pistole schwankte unentschlossen.
Das Null taumelte über die Lichtung, in langsamen Schlangenlinien. Fast wäre es den Geröllhang hinuntergestürzt, ein Fuß hing bereits unstet über dem Abgrund, doch dann fuhr es in einer tropistischen Reaktion zurück. Das Null schwankte ein paar Schritte rückwärts, blieb stehen, wankte und sank langsam auf die Knie.
Es beugte sich nieder, mit gesenktem Kopf, die Arme schlaff am Boden, die Handflächen nach oben gekehrt.
Heynith ließ seine Waffe in den Schoß sinken und schüttelte den Kopf. Er sagte, er wolle verdammt sein, wenn er eine Ahnung hätte, wo das Ding herkam, aber wir würden es loswerden müssen. Falls man es entdeckte, wäre unser Hinterhalt verraten. Automatisch hob ich meine Pistole und zielte, aber Heynith befahl mir zu warten. Keinen Lärm, sagte er, nicht jetzt. Goth sollte hinausgehen und es lautlos töten.
Goth weigerte sich. Heynith starrte ihm sprachlos ins Gesicht und lief dann rot an. Goth und Heynith waren schon früher aneinandergeraten. Goth war ein guter Mann, mutig wie ein Stier, aber er war eigensinnig, neigte zu oft dazu, seinem
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