Korona
drei Meter hoch und grün wie die Bäume, verschmolz sein Äußeres perfekt mit den überwucherten Innenwänden des uralten Bauwerks, dessen Decke sich Dutzende von Metern über seinem Kopf spannte. Ranken überwucherten die Felsen und erfüllten die Höhle mit Leben und Feuchtigkeit. Der Saal war ein lebender Kokon, ähnlich der Fruchtblase einer schwangeren Frau.
Lichtstrahlen fielen durch die schmalen Schlitze in den Außenmauern. In ihrem Schein tanzten Myriaden blauer Schwebfliegen. Der Namenlose kroch näher heran. Licht war für ihn lebensnotwendig, auch wenn er die direkte Einstrahlung mied. Drei Wochen lang hatte er auf demselben Fleck gesessen, ohne aufzustehen, ohne sich hinzulegen, ohne zu atmen. Doch jetzt war die Transformation abgeschlossen. Er war bereit für seine Aufgabe.
Der Namenlose brauchte keinen Schlaf. Er konnte seinen Stoffwechsel so weit reduzieren, dass er sogar einige Zeit ohne Nahrung auskam. Hauptsache, es war ein wenig Licht vorhanden. Genau genommen war sein Wesen eher pflanzlicher als tierischer Natur. Seine Organe waren durch algenartige Geflechte ersetzt worden, die effizient und wirkungsvoll arbeiteten. Weitaus besser jedenfalls als das, was ursprünglich an dieser Stelle gewesen war. Nervenbahnen waren durch Neuronalnetze ersetzt worden, Muskeln durch Stränge knotiger Pflanzenmaterie. Er war fähig, Flüssigkeit aufzunehmen, indem er sich auf den Boden presste und ihm mittels feiner Kapillaren Feuchtigkeit entzog. Doch natürlich konnte er auf diese Weise genauso gut andere Lebewesen aussaugen. Der Namenlose schätzte den Geschmack frisch erlegter Wirbeltiere. Blut, Muskeln und Knochen, all das erzeugte ein Gefühl von Wohlbefinden. Von seinen Sinnesorganen waren das Gehör und der Geruchssinn am besten ausgebildet. Nur seine Augen waren geblieben. Augen, die ihre Aufgaben zwar zufriedenstellend erfüllten, die aber verglichen mit den anderen Sinnen eher unterentwickelt waren. Die feinen Flimmerhärchen in seinen Ohren waren um ein Vielfaches empfindlicher als die von Tieren. Eine Nase besaß der Namenlose nicht, dafür war die gesamte klebrige Oberfläche seines Körpers in der Lage, Duftstoffe zu absorbieren.
Die Hyphen – feine, fadenförmige Pilzzellen – hatten seinen Körper mit erschreckender Präzision ersetzt und perfektioniert. Nicht nur Organe und Muskeln waren verändert worden, auch das Gehirn war bis hin zur winzigsten Synapse eine pflanzliche Kopie seines einstigen Körpers. Eine bessere und stärkere Kopie. Alles, was schwach und unzureichend gewesen war, hatten die Hyphen ausgelöscht. Nur ärgerlich, dass sie nicht auch seine Erinnerungen gelöscht hatten. Sie waren die letzte Brücke in die Vergangenheit. Eine Brücke, die er nur allzu gern abgerissen hätte.
Der Namenlose spürte einen stechenden Schmerz in seiner rechten Hand. Er hob sie hoch und hielt sie ins Licht. Ein goldener Ring steckte an einem der fingerartigen Auswüchse. Halb belustigt, halb verärgert betrachtete er den fremdartigen Gegenstand. Erinnerungen wurden wach – Erinnerungen an eine Zeit, als er noch ein anderer gewesen war. Wenn man genau hinsah, konnte man in der Höhle immer noch am Boden herumliegende Stofffetzen erkennen. Menschliche Kleidung, die der Transformation nicht standgehalten hatte. Nur der Ring war geblieben und schnitt ihm in den Finger. Seine Hände waren in den letzten Stunden größer geworden. Emotionslos biss der Namenlose seinen Finger ab. Grüne Flüssigkeit tropfte auf den Boden und verschloss die Wunde binnen Sekunden. Aus dem Stumpf kam ein neuer Trieb, der den ursprünglichen Finger ersetzte. Kurze Zeit später war von der Verletzung nichts mehr zu sehen. Der Namenlose klaubte den Ring vom Boden und hielt ihn ins Licht. Das Bild einer Frau tauchte in seiner Erinnerung auf. Langes schwarzes Haar, ein schlanker Körper. Ihr Lächeln war von strahlender Helligkeit.
Er schleuderte den Ring fort und zog sich wieder in die Dunkelheit zurück. Er griff nach einer steinernen Schale, die dort stand. Sie war gefüllt mit dem Lebenssaft eines Opfertieres. Er tauchte seine vielgliedrige Zunge hinein, während seine Wurzelfäden das Protein aufnahmen. Zornig schlürfte er die Schale leer. Erinnerungen waren unnütz. Sie waren schmerzhaft und kosteten Kraft.
Als er seine Nahrungsaufnahme beendet hatte, drosselte der Namenlose seine Körperfunktionen und beobachtete, wie die Sonnenstrahlen über die Wände krochen.
20
D ie Leuchtziffern auf Rays Uhr zeigten
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