Korona
dreiundzwanzig Uhr.
Ringsherum herrschte tiefe Stille. Die Mitglieder des Teams waren bereits vor einer Stunde in ihre Schlafsäcke gekrochen und sofort in bleiernen Schlaf gefallen. Geduldig wie ein Samurai hatte er ausgeharrt und gelauscht, wie die Welt in den Schlaf sank. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen.
Langsam und vorsichtig öffnete er seinen Schlafsack. Außer seinen Schuhen hatte er alles anbehalten. Rasch schlüpfte er in sie hinein, band die Schnürsenkel und öffnete dann langsam den Reißverschluss seines Zeltes. Ein eisiger Wind fuhr ihm ins Gesicht. Der Geruch von Schnee lag in der Luft. Richard hatte nicht übertrieben. Die Temperaturen waren bereits rapide gefallen, und wie es aussah, würde es noch kälter werden. Ray wühlte in seinem Rucksack, holte seinen Fleecepullover heraus und schlüpfte hinein. Dann griff er seine Taschenlampe und glitt durch den schmalen Eingang hinaus in die Nacht. Eine Weile blieb er draußen stehen, nur um sicherzugehen, dass ihn auch wirklich niemand bemerkt hatte. Es war nirgendwo eine Bewegung zu sehen, nicht mal im Zelt von Mellie. Gut so. Die Nacht mit der Botanikerin hatte zwar seinen Hunger nach körperlicher Liebe geweckt, aber bei dem, was er vorhatte, konnte er keine Begleitung gebrauchen.
Er blickte in die Runde. Durch die wogenden Baumwipfel hindurch sah er schnell dahinziehende Wolken, durch die immer wieder der helle Vollmond leuchtete. Sein Licht genügte ihm für den ersten Teil seines Vorhabens.
Vorsichtig und nur auf den Zehenspitzen gehend verließ er das Lager. Sein Ziel war eine bestimmte Stelle im Wald, die er heute beim Wasserholen entdeckt hatte. Er hatte den Weg noch gut im Gedächtnis, denn er wusste, dass er ihn im Dunkeln wiederfinden musste. Nichts wäre peinlicher, als im Kreis zu gehen, um dann von den anderen gerettet zu werden. Er hatte schon zwei Rügen wegen Insubordination von Amy erhalten, ein drittes Mal würde sie bestimmt nicht mehr so nachsichtig sein. Wenn es nach ihm ging, sollte niemand erfahren, dass er überhaupt fort gewesen war.
Er lief etwa fünfzig Meter weit in den Wald hinein, dann wagte er es, die Lampe anzuschalten. Den Lichtkegel auf weiteste Streuung drehend, begann er nach Wegmarkierungen zu suchen. Schon nach wenigen Metern hatte er die erste gefunden. Einen von Moos überzogenen Felsen, auf dessen Wetterseite er einen kleinen Kreis eingeritzt hatte. Er spürte, wie sein Herz schlug. Einbildung oder nicht, aber auf keinem Abschnitt seiner Reise hatte er die Präsenz William Burkes so stark gespürt wie an diesem Ort. Es war, als würden die Bäume ihm Geheimnisse zuflüstern. Alles, was er zu tun hatte war, ihnen zuzuhören und der Spur zu folgen, die sie für ihn auslegten. Er lächelte grimmig. Das Raubtier in ihm war erwacht.
Tief im Schacht der Stummen Halle kauernd, hob der Namenlose seinen Kopf. Das Mondlicht schien als schwacher Streifen zwischen den schmalen Fenstern hindurch auf den rankenüberwucherten Boden.
Ein weit entfernter Duft drang an seine Geruchsorgane. Der Geruch von Wärme, Schweiß und Adrenalin. Er kannte diesen Geruch. Er war wie der schwache Widerhall einer Erinnerung aus längst vergangenen Tagen – aus einer Zeit, als er noch ein anderer gewesen war.
Langsam breitete er seine Extremitäten aus. Er wollte dem Geruch eine möglichst große Oberfläche bieten. Jeder Quadratzentimeter seines Körpers war bedeckt mit Geruchspapillen. Je mehr er sich aufrichtete, umso besser konnte er riechen. Als er seine volle Höhe erreicht hatte, war sein Körper so groß, dass er das Mondlicht schluckte und einen riesigen Schatten auf den Boden warf. Seine Geruchsnerven filterten die Duftstoffe aus der Luft und leiteten sie an seinen zerebralen Kortex weiter.
Ganz eindeutig: Was da näher kam, war ein Zweibeiner. Und er hatte Angst.
Rays Atem ging stoßweise. Er hatte die Stelle wiedergefunden. Der Schein seiner Taschenlampe glitt über eine Ansammlung scheinbar wahllos hingestreuter Felsblöcke, die trotz ihres Zerfalls die unübersehbaren Zeichen künstlichen Ursprungs trugen. Selbst im schwachen Licht seiner Lampe konnte man erkennen, dass es die Grundmauern eines uralten Gebäudes waren. Klobig zwar und unförmig, aber ganz eindeutig von menschlicher Hand geformt. Sie bildeten einen achteckigen Grundriss von schätzungsweise fünf Metern Kantenlänge, verliefen nach hinten in Form einer Mauer, ehe sie nach fünfzig Metern in ein weiteres achteckiges Gebäude mündeten. Der Grundriss
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