Korona
erinnerte Ray irgendwie an den Bauplan mittelalterlicher Wehranlagen, den er mal in einem Buch über spanische Burgen gesehen hatte. Möglicherweise war er ja hier auf ein afrikanisches Pendant gestoßen – eine Mauer, flankiert von Wachtürmen, die eine Stadt umschlossen.
Seiner Eingebung folgend, lief er tiefer in den Wald hinein. Bereits nach weiteren fünfzig Metern machte die Mauer einen leichten Knick nach rechts, ehe sie in einem weiteren Turm endete. Die Grundmauern waren im gelblichen Licht der Taschenlampe gut zu erkennen. Manche von den Brocken waren so groß, dass sie vier Männer mit ihren Armen nicht umschließen konnten. Sie sahen aus, als würden sie mehrere Tonnen wiegen. Wie man sie aus dem Fels geschnitten und bewegt hatte, war ihm ein Rätsel. Fest stand, es musste eine gewaltige Anlage gewesen sein. Zu groß für irgendeine unbedeutende Stadt oder einen Kleinstaat.
Plötzlich hatte er eine Idee. Er blieb stehen und blickte umher. Da anzunehmen war, dass die wichtigsten Gebäude irgendwo im Zentrum lagen, wäre es doch sinnvoller, den Stadtkern zu suchen, als weiter dem Wall zu folgen.
Er blickte nach rechts und arbeitete sich durch den nächtlichen Bergwald in Richtung Zentrum. Ein eiskalter Wind fuhr durch die Wipfel. Er schlug den Kragen seines Pullovers hoch und versteckte seine Hände in den Ärmeln.
Je tiefer er in den Wald vorstieß, desto größer wurden die Ruinen. Schon längst waren es keine einfachen Grundmauern mehr, sondern mehrere Meter hohe Gebäude, die wie Pilze aus dem Boden wuchsen. Um ihn herum ragten Bäume in die Höhe, deren schwarze, knotige Stämme wie die verdrehten Leiber geschundener Sklaven wirkten. An vielen Stellen hatten ihre Wurzeln die Mauern gesprengt und kamen zwischen den zerstörten Wänden hindurch ans Licht. Würgefeigen umklammerten das Gestein, als wollten sie es mit ihrer Kraft zu Sand zermahlen. Durch die Ritzen geborstener Quader drangen Lianen, deren Windungen wie die Leiber fetter Schlangen aussahen. Ray schauderte beim Anblick der schwarzen Tür- und Fensteröffnungen, die in unbekannte Tiefen führten. Wäre er nicht von rastloser Unruhe getrieben, er hätte vermutlich auf der Stelle kehrtgemacht und wäre in seinen warmen Schlafsack zurückgekrochen.
Der Namenlose verließ seinen angestammten Platz im hintersten Teil der Stummen Halle und schlurfte in Richtung der Eingangspforte. Vorbei an den steinernen Reliefs seiner Ahnen und den Tafeln des Delos, die feucht vom Wasser der heiligen Quellen im Mondlicht glänzten. Szenen voller Macht und Magie, in denen die ganze Grausamkeit, die zu seiner Erschaffung geführt hatte, beschrieben wurde. Wie oft hatte er schon davorgestanden und sich gefragt, was wohl geschehen wäre, hätte er dieses verfluchte Land nicht betreten. Hätte man ihn nicht gefangen genommen und zur Umformung ausersehen. Wäre er heute immer noch der, der er damals gewesen war?
Er blickte in eine andere Richtung.
Was immer da auf seine Halle zukam, es hatte Angst. Der Geruch des Opfers war von Minute zu Minute stärker geworden. Mittlerweile war er so intensiv, dass der Namenlose sich nicht mehr aufrichten musste, um den Duft mit den empfindlichen Geruchszellen seiner Bauchregion aufzunehmen. Er drang durch jede Öffnung seiner Behausung und erfüllte den Saal mit betäubender Intensität. Es war ein Mann, ganz eindeutig. Männer rochen anders als Frauen. Intensiver. Ihr Schweiß war durchsetzt mit den Pheromonen des Testosterons. Dieser hier war regelrecht damit getränkt. Er roch wie ein verängstigtes Tier.
Gut so.
Der Namenlose liebte die Angst. Sie war sein engster Verbündeter. Besonders in Nächten wie dieser – mit dem Vollmond am Himmel – schmeckte sie wie reinster Blütennektar.
Der Mann war jetzt ganz nah. Der Namenlose konnte bereits seine vorsichtigen Schritte und seine keuchenden Atemgeräusche hören. Wenn man ganz genau lauschte, war noch etwas anderes zu vernehmen. Ein leises Klopfen, wie von einem Tier in einem zu engen Käfig. Das Geräusch eines schlagenden Herzens.
Ray blieb wie angewurzelt stehen. Völlig unvermutet war das Ziel seiner Wanderung vor ihm aufgetaucht. In einer Senke, etwa hundert Meter entfernt, ragte eine Stufenpyramide in den nächtlichen Himmel. Ihre Spitze streifte die Kronen der mächtigen Bäume, die ihre Äste über dem Bauwerk ausbreiteten. Ein Ruinenfeld umgab die Pyramide wie ein steinerner Ring, der an einigen Stellen von strahlenförmig angelegten Prachtstraßen
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