Korridore der Zeit
waren, und Echegon angesehen. Er war auf alles von entsetzter Ablehnung bis zu nachsichtigem Lächeln gefaßt. Statt dessen war der Stammesälteste sofort auf den Vorschlag seiner Tochter eingegangen.
Storm lehnte die Einladung, sie zu begleiten, ab, worüber Auri offensichtlich erleichtert war. Das Mädchen verbarg seine Furcht vor der dunkelhaarigen Frau nicht, die sich so aufrecht hielt und soviel Zeit allein in den Wäldern verbrachte. Storm schien sich in den eineinhalb Wochen, die sie nun in Avildaro lebten, auch von Lockridge zurückgezogen zu haben. Wenn er von dem, was er erlebte, auch zu fasziniert war, um sich gekränkt zu fühlen, so machte ihm ihr Verhalten doch klar, welche Kluft zwischen ihnen bestand.
Nun, als sich die Sonne abwärts neigte, setzte er sein Paddel ein und trieb das Kanu heimwärts. Es war keines der großen, fellbespannten Boote, die sich über den Fjord hinauswagten. In einem solchen Boot hatte er bereits am Robbenfang teilgenommen, einer gefährlichen, blutrünstigen Angelegenheit, bei der die Besatzung sang und beim größten Wellengang ihre Scherze trieb. Heute war es ein leichtes Kanu, das nicht mehr als einen grünen Zweig am Bug erforderte, um die Götter des Wassers gnädig zu stimmen.
Still, mit Schilf bestanden, blieb das Marschland hinter ihnen zurück, auf dem sich Enten, Gänse, Schwäne, Störche und Reiher in Scharen tummelten. Lockridge folgte dem Verlauf der südlichen Küste der Bucht, deren Grün die Sonnenstrahlen in Gold verwandelten. Zu seiner Linken reichte das Wasser schimmernd bis an den Horizont, hin und wieder von kreisenden Möwen oder dem Sprung eines blitzenden Fisches belebt. So still war die Luft, daß die fernen Laute ebenso klar klangen wie das Tropfen von seinem Paddel. Der Himmel wölbte sich dunkelblau und wolkenlos.
Gottlob, dachte Lockridge. Es war ein schöner Tag, aber ich bin froh, diesen Moskitos entkommen zu sein. Das Mädchen schien nicht unter ihnen gelitten zu haben ... nun, diese Eingeborenen werden wohl so oft gestochen, daß sich eine Art Immunität entwickelt.
»Hat dir der Tag gefallen?« fragte das Mädchen scheu.
»O ja«, sagte er. »Ich danke dir, daß du mir all das Schöne gezeigt hast.«
Sie schien erstaunt, und er erinnerte sich, daß die Tenil Orugaray, wie die Navajos, Dank nur für bedeutende Günste zu bekunden pflegten. Alltägliche Gefälligkeiten wurden als selbstverständlich vorausgesetzt. Der Diaglossa ermöglichte ihm, sich fließend in ihrer Sprache zu unterhalten, hielt ihn aber nicht von der Befolgung alter Gewohnheiten ab.
Das Gesicht des Mädchens färbte sich dunkel. Sie senkte den Blick und murmelte: »Nein, ich muß dir danken.«
Lockridge musterte sie. Auri war so schlank, und ihre Bewegungen erinnerten so an die eines jungen Fohlens, daß er sie für nicht älter als fünfzehn hielt. Er fragte sich, warum sie noch Jungfrau war. Andere Mädchen, mochten sie verheiratet sein oder nicht, erfreuten sich sogar noch jünger einer samoanischen Art von Freiheit.
Natürlich dachte er nicht im Traum daran, seine Stellung hier zu gefährden, indem er dem einzigen Mädchen im Haus seines Gastgebers zu nahe trat. Er gab zu, daß die Versuchung nicht gering war. Das Mädchen war unzweifelhaft eine kleine Schönheit. Sie hatte große blaue Augen, eine kleine, gerade Nase mit ein paar Sommersprossen, einen weichen, vollen Mund und flachsfarbenes Haar, das ihr in weichen Wellen über die Schultern floß. Und die Beharrlichkeit, mit der sie sich im Ort in seiner Nähe hielt, brachte ihn zuweilen in Verlegenheit. Trotzdem ...
»Du brauchst mir nicht zu danken, Auri«, sagte er. »Du und die Deinen haben mir mehr Freundlichkeit bewiesen, als ich verdiene.«
»Nein, nein!« protestierte sie. »Du machst mich glücklich.«
»Wodurch? Ich habe nichts getan.«
Sie verschränkte die Hände und blickte in ihren Schoß. Es war so schwer für sie, ihre Gefühle zu erklären, daß er wünschte, er hätte nicht gefragt, aber er fand keinen Weg, sie von ihren Gedanken abzubringen.
Die Geschichte war einfach. Bei den Tenil Orugaray war ein Mädchen heilig, unverletzlich. Wenn sie aber selbst fühlte, daß ihre Zeit gekommen war, bezeichnete sie einen Mann, der sie einweihen sollte, was beim Fest der Frühlingsaussaat geschah. Der von Auri Auserwählte war aber wenige Tage vor dem feierlichen Augenblick im Meer ertrunken. Offensichtlich waren die Mächte verärgert, und die Kluge Frau entschied, daß Auri allein bleiben
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