Korrupt (German Edition)
dort war, würde er schon eine Erklärung finden. Er musste sich beeilen, denn sonst kam er vielleicht zu spät.
5
Max schlug die Augen auf. Es war stockdunkel, und nur der Geruch von Holz verriet, dass er auf dem Rücken am Boden lag. In seinem Schädel rumorte es, und in seinem Mund schien etwas gestorben und dann dort liegen geblieben zu sein. Stechende Schmerzen durchzuckten seinen Kopf und lösten Übelkeit aus, sobald sie an die Schädeldecke stießen. Sein Haar war verschwitzt. Max hätte nicht sagen können, ob er eine oder vierundzwanzig Stunden lang bewusstlos gewesen war. Er erinnerte sich an die Autofahrt, den Whisky auf dem Sofa, daran, wie er zu Boden gestürzt war. Er war betäubt worden. Der Mann hatte gewusst, wer er war und was er wollte. Max holte tief Luft und drehte sich auf den Bauch. Es roch nach Erbrochenem, und er spürte seinen Mageninhalt zwischen den Fingern.
Er richtete sich auf, rutschte auf den Knien ein Stück nach rechts und stieß an eine Wand. Er machte kehrt und kroch auf allen vieren in die Gegenrichtung. Seine Hände berührten etwas. Da lag jemand. Eine Frau. Sie war nackt. Sein Puls beschleunigte. Er erhob sich und machte einen großen Schritt über den Körper hinweg auf die nächste Wand zu. Er tastete nach einer Türklinke oder einem Lichtschalter, während er der Wand im Uhrzeigersinn folgte. Schließlich spürte er einen Schalter unter den Fingern. Als er ihn betätigte, ging die Deckenlampe an, der Strom setzte seinen Weg ins Untergeschoss fort. Seit dreißig Jahren funktionierte dieses alte, schlichte Alarmsystem einwandfrei. Sobald die Beleuchtung in dem Zimmer, in dem Max erwacht war, eingeschaltet wurde, leuchtete an der Wand in der leeren Küche ein Lämpchen auf.
Max befand sich in einem zwanzig Quadratmeter großen, schmalen Zimmer mit Dachschräge. An einer Wand stand eine Kommode. Darauf lag eine aufgeklappte Ledertasche mit etlichen Glasampullen, die das Licht von der Glühlampe an der Decke reflektierten. Am anderen Ende des Zimmers stand eine Videokamera auf einem Stativ. In der Wand mit dem Lichtschalter befand sich die klinkenlose Tür. In der Mitte des Zimmers lag Annie mit gefesselten Armen und Beinen nackt auf dem Rücken. Ihr schöner, weißer Körper, neben dem er so oft gelegen hatte. Er hat eine andere Form angenommen, dachte er, als er neben ihr kniete, um nachzufühlen, ob sie noch lebte. Ihr Körper sah geborsten aus wie der einer Porzellanpuppe, die immer wieder zerbrochen und wieder zusammengeleimt worden war. Ihre wunderbaren Wimpern waren blutverklebt, und ihr Mund stand offen. Blut war von der Nase hineingelaufen und auf der Lippe und auf einem Schneidezahn getrocknet. Max beugte sich über sie und weinte, und aus seiner Nase und seinen Augen tropfte es auf ihren Bauch. Aber in seinem Innern herrschte vollkommene Leere, dort waren die Gefühle versiegt. Sein Inneres war tot und karg wie die Wüste von Nevada nach einem Atomwaffentest. Max beugte sich ganz nah über Annies Gesicht und sagte ihren Namen, aber sie antwortete nicht. Dann legte er seine Hand an ihren Hals, um ihren Puls zu fühlen. Ihr Herz schlug. Schwach, aber es schlug. Dann legte er ihr die Hand auf den Bauch, um zu fühlen, ob sich Mingus regte, aber alles war still. Annies Haut war kühl. Sonst war sie doch immer so warm.
«Annie», flüsterte er. «Hörst du mich?» Nichts.
Er schaute sich um. Er musste etwas finden, womit er ihre Fesseln durchschneiden konnte. Er stand auf und ging zu der Kommode. Die Ledertasche war, abgesehen von den Ampullen, leer. Er hielt eine davon gegen das Licht. Vermutlich hatte Annie dasselbe Mittel bekommen wie er. Max zog die Kommodenschubladen heraus, aber alle waren leer. Dann ging er zur Tür und presste sein Ohr dagegen. Er hörte nichts. Vielleicht war die Tür zu dick, aber das spielte keine Rolle. Er musste jetzt unbedingt etwas zum Schneiden finden. Er lehnte sich gegen die Tür und drückte sie sacht auf. Vorsichtig schaute er durch den Spalt. Der Raum, vermutlich ein Arbeitszimmer, stand leer. Die Lampe an der Decke blendete ihn, und er hielt sich eine Hand vor die Augen, während er sich nach einem scharfen Gegenstand umsah. Dann ging er zum Schreibtisch und zog die Schubladen heraus, in denen sich Papiere, Fotos, Stifte und ein recht stumpfer Brieföffner befanden. Max ließ den Blick über die Regale wandern, die die Tür zu dem Zimmer verbargen, in dem er aufgewacht war. Nichts.
Da fiel ihm plötzlich etwas ein. Er schob die
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