Kostas Charitos 06 - Die Kinderfrau
erhebt sich, als ich eintrete. »Come, the chief is waiting«, meint er.
Im Gegensatz zu meinem ersten Besuch sind etwa fünfmal so viele Leute auf den Gängen unterwegs wie bei uns, obwohl es sicher auch auf dem Alexandras-Boulevard Tage gibt, wo viel los ist. Zuerst versperren uns einige Beamte in Zivil den Weg, die einen Asiaten in Handschellen hinter sich herziehen, andere treten unvermittelt aus einem Büro und rennen uns fast über den Haufen. Beim Ausweichen stolpere ich beinah über die Füße derjenigen Leute, die dicht gedrängt auf den Bänken im Flur sitzen und geduldig warten, bis sie an der Reihe sind.
»Geht es bei Ihnen auch so zu?«, fragt mich Murat.
»Bei uns ist es normalerweise ein wenig ruhiger.«
»Hier ist die Hölle los. Deshalb kamen irgendwelche Schlauberger in Ankara auf die Idee, eine Website einzurichten, damit die Leute leichter mit uns in Kontakt treten können, aber bislang sehe ich keinen Unterschied.«
»Wieso?«
Er lacht auf. »Look around«, meint er. »Sehen Sie sich um und sagen Sie mir, wer von all diesen Leuten übers Internet mit uns in Kontakt treten würde.«
Ich suche nach einer höflichen Antwort, doch mir fällt keine ein. Murat spürt meine Verlegenheit und klopft mir freundschaftlich auf die Schulter. »No need to answer«, meint er. »Schon gut.«
Im Vorzimmer des stellvertretenden Amtsleiters begrüßt mich derselbe Beamte wie letztes Mal wieder mit Handschlag und »Hos geldiniz«. Murat öffnet die Tür und überlässt mir den Vortritt.
Der stellvertretende Amtsleiter streckt mir die Hand entgegen und deutet auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Murat setzt sich zwischen uns an die eine Seite des Tisches. Beschränke ich mein Blickfeld auf uns drei, könnte ich mir einbilden, in Gikas' Büro zu sitzen, nur dass jemand anderer auf dem Chefsessel sitzt. Zum Glück reißt mich der stellvertretende Amtsleiter aus meinen Gedanken.
»Herr Saglam hat mir von Ihrem Gespräch mit der Verwandten der...« - der Name fällt ihm nicht ein, doch er hat vorgesorgt, denn er hat sich Notizen gemacht - »der Chambou berichtet«, ergänzt er, nachdem er einen Blick auf sein Papier geworfen hat.
Er hält inne und blickt mich an, doch ich nicke nur. Murat verhält sich - zumindest für griechische Verhältnisse -sehr devot, denn er wartet, bis sein Vorgesetzter zu Ende gesprochen hat, und ergreift dann erst das Wort.
»Wir haben alle Polizeireviere ersucht, uns Listen mit den in ihrem Gebiet wohnhaften Griechen zu schicken, aber, ehrlich gesagt, hege ich da keine großen Hoffnungen.«
»Die Chambou kommt zu ihren Opfern, wohnt ein paar Tage bei ihnen, vergiftet sie und lässt sich dann von ihrem nächsten Opfer beherbergen«, erläutere ich. »Logischerweise schränken sich irgendwann die Möglichkeiten ein, bei alten Bekannten unterzukommen, und es wird nicht mehr so leicht für sie sein, eine Bleibe zu finden.«
»This woman knows Istanbul very well«, greift Murat ein. »Diese Frau kennt Istanbul sehr gut. Zumindest die Stadtteile, in denen sie damals gelebt hat. Sie muss nicht unbedingt bei einer Familie Unterkunft finden, sie kann auch woanders wohnen.«
»Und wo?«
Der stellvertretende Leiter wendet sich Murat zu und erklärt ihm etwas auf Türkisch. Dann richtet er das Wort wieder an mich: »Es gibt eine Menge verlassener Häuser griechischer Staatsbürger, die '64 im Zuge der Zypernkrise ausgewiesen wurden. Diese Häuser gehören immer noch ihren Besitzern, und der türkische Staat hat keinen Zugriff darauf. Viele davon sind alte verfallene Holzhäuser, die keiner betreten darf.«
»Und sie könnte in so einem Haus wohnen?«, frage ich erstaunt.
»Wir sind nicht sicher, aber es könnte sein. Bestimmt weiß sie, wo früher Griechen gewohnt haben, und könnte sich dort verstecken.«
Irgendwie scheint mir dieser Gedanke an den Haaren herbeigezogen zu sein. »Excuse me, chief«, sage ich. »Aber die Nachbarn würden doch etwas bemerken. Die würden doch die Polizei benachrichtigen.«
Er lacht auf. »Vergessen Sie nicht, dass sie auf die neunzig zugeht. Wer sollte sie in Verdacht haben?« Nach einer kleinen Pause wird er wieder ernst. »Höchstwahrscheinlich haben sie Mitleid mit der alten Frau und bringen ihr einen Teller Essen hinüber.«
»Können wir nicht herauskriegen, wo solche Häuser liegen?«
»Unmöglich«, meldet sich Murat. »Dafür bräuchten wir mindestens
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