Krampus: Roman (German Edition)
konnten. Seine Hand zitterte tatsächlich. Auf der Karte stand: FROHES JULFEST, KRAMPUS. WIR SIND SEHR BRAVE KINDER. ALLES LIEBE, MARY UND TODD.
»Das gibt’s doch nicht«, sagte Isabel.
»Die haben sicher in der Zeitung von Krampus gelesen«, sagte Jesse.
»Mag sein«, sagte Isabel. »Oder wir haben letzte Nacht irgendwelche Freunde oder Verwandten von den Leuten hier besucht.«
Krampus ging in die Hocke, nahm die Bonbons aus einem der Schuhe und hielt sie in der ausgestreckten Hand. »Danke«, flüsterte er. »Danke für euren Tribut.« Der Herr der Julzeit wischte sich über die Augen, und Jesse begriff, dass das riesige Ungeheuer tatsächlich weinte. »Ihre Belohnung«, sagte Krampus. »Sie müssen ihre Belohnung bekommen. Jesse, hol ein paar Münzen heraus.«
Wie geheißen hob Jesse den Sack auf und streckte ihn Krampus hin.
»Hol du sie raus. Ich habe die Hände voll«, sagte dieser, ohne den Blick von den Leckereien zu heben. Er hielt sie von sich gestreckt wie kostbare Juwelen.
Jesse öffnete den Sack und zögerte. Hatte Krampus nicht davon gesprochen, dass diese Münzen in einer Hölle lagerten? Er war sich nicht sicher, ob er die Hand gerne in eine Hölle stecken wollte … und zwar egal welche. Alle warteten auf ihn. Er seufzte, dachte an die dreieckigen Münzen und schob die Hand in den Sack. Im Innern herrschte Kälte, was sich eher wie Angst anfühlte als wie eine Temperatur. Sie ging ihm durch Mark und Bein. Er verspürte ein beinahe schmerzhaftes Kribbeln, von dem ihm die Zähne wehtaten. Jesse konzentrierte sich auf die Münzen, schließlich wollte er die Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich bringen. Da stieß er mit der Hand gegen etwas Sprödes, Verkrustetes, und das Bild von etwas Verrottetem entspann sich vor seinem geistigen Auge. Dann berührte ihn etwas. Eigentlich handelte es sich eher um eine Liebkosung, als striche ihm ein feines Gewebe über die Haut.
Er stieß ein leises Quieken aus und riss die Hand zurück. »Krampus. Da ist etwas drin!«
Der Herr der Julzeit stieß ein Schnauben aus. »Natürlich, die Toten. Hab keine Angst, sie können dir nichts anhaben. Es sind nur Geister … verlorene Seelen, die den Weg nach Hause nicht gefunden haben.«
Jesse spähte in die rauchige Finsternis und glaubte, etwas zu hören – ein Wehklagen. Es war schwach und weit entfernt, aber unverkennbar. Er fröstelte, und ein Schauer lief ihm über den Rücken.
Krampus setzte ein verschlagenes Grinsen auf. »Du solltest allerdings aufpassen, dass du nicht hineinfällst. Dann würdest du in den endlosen Katakomben umherstreifen, bis dein Leib dahingeschwunden ist, während dir die Toten auf Schritt und Tritt folgen … und darauf warten, dich in ihre Reihen aufzunehmen.«
Da musste Jesse laut schlucken und gab sich alle Mühe, sich wieder auf die Münzen zu konzentrieren, während er die Hand erneut in den Sack gleiten ließ. Diesmal fanden seine Finger das Gesuchte. Er zog eine Handvoll dreieckiger Goldstücke hervor und hielt sie Krampus hin.
»Gut, steck sie in die Schuhe.«
Er tat wie geheißen. Insgesamt waren es sechs Münzen. »Die Kinder freuen sich bestimmt«, sagte er. »Davon können sie sich wahrscheinlich ein anständiges Auto kaufen.«
Krampus gab jedem der Belznickel eine Süßigkeit und behielt ein Teil für sich, einen roten Lutscher. Er starrte ihn einen Moment lang an, wie man ein verloren geglaubtes Foto aus seiner Jugendzeit ansieht, bevor er ihn auswickelte und in den Mund steckte. »Unsere Arbeit hier ist getan«, sagte er und ging zum Schlitten zurück.
Sein Schritt wirkte auf einmal beschwingt. Der Herr der Julzeit sprang hinein, warf einen letzten Blick auf das Haus und nickte. Das Mondlicht glänzte auf seinem breiten Lächeln.
»Zu guter Letzt ist der Herr der Julzeit zurückgekehrt.«
***
Auf den Auffahrten der nächsten Häuser tanzte Krampus beinahe. Verspielt zuckte er mit dem Schwanz, wedelte beinahe. Er schlich nicht länger umher, sondern trat ein und wünschte den Bewohnern lautstark ein fröhliches Julfest. Die Belznickel gaben sich alle Mühe, die verstörten Eltern zu beruhigen, während Krampus die Kinder mit seinen Geschichten und Geschenken in Atem hielt und erschreckte. In einem Fall feuerte ein Mann tatsächlich zweimal seine doppelläufige Schrotflinte ab und hätte wohl Vernon umgebracht, wenn es Chet nicht gelungen wäre, ihm die Waffe zu entwinden. Knapp über die Wipfel hinweg flogen sie von Grundstück zu Grundstück,
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