Krampus: Roman (German Edition)
angerichtet hat, soll der Letzte von Lokis Blut vom Antlitz der Erde getilgt werden.«
Er setzte das Horn an die Lippen und blies hinein. Ein langer, machtvoller Ton erklang. Der tiefe Basslaut drang durch Boden und Luft, trug aus dem Tal hinaus und durch die Welt. Nikolaus wusste, dass seine Kinder ihn hören würden, egal, wo sie auch waren. Selbst wenn sie sich am anderen Ende der Welt befanden, würden sie ihn hören. »Kommt, Hugin und Munin, kommt, Geri und Freki, kommt, ihr großen Geschöpfe ruhmreicher Zeiten. Eilt herbei und helft mir, diesen Teufel zu finden. Es ist an der Zeit, das zu beenden, was schon vor fünfhundert Jahren hätte beendet werden sollen. Es ist an der Zeit, Krampus ein für alle Mal unter die Erde zu bringen.«
Das sterbende Rentier trat aus und scharrte in dem Versuch, aufzustehen, mit den Hufen über die Steine. Nikolaus verzog das Gesicht, hob sein Schwert auf und zog es aus der Scheide. Es war keine schöne Waffe, sondern ein stabiles Breitschwert mit einer Klinge, die zum Töten gedacht war. Er ging zu dem Rentier hinüber, das sofort aufhörte zu strampeln, aus dunklen, feuchten Augen zu ihm aufblickte und ein gedehntes Blöken ausstieß. Nikolaus erhob das Schwert und schlug fest zu. Mit einem einzigen, sauberen Schnitt trennte er dem Rentier den Kopf vom Rumpf.
Sankt Nikolaus wischte das Blut von der Klinge und steckte sie zurück in die Scheide. Dann band er das Horn an seinen Gürtel, schnallte sich das Schwert auf den Rücken und machte sich auf den Weg in Richtung Süden, wo die kleine Stadt lag, in der sie ihm aufgelauert hatten. Er wusste, dass der Sack irgendwo auf dem Wohnwagenstellplatz gelandet war, und er würde ihn sich wiederholen. »Krampus, mein lieber alter Freund, dafür wirst du bezahlen. Dein Tod ist gewiss, und ich werde dafür sorgen, dass er grausig wird.«
***
Der Streifenwagen hielt neben Jesses Auto. Dillard öffnete die Wagentür und stieg aus. Der Polizeichef war ein massiger Mann und über einen Meter achtzig groß, und obwohl er an die sechzig sein mochte, sah er aus, als könnte er Bäume umknicken. Er war in Zivil, trug Jeans und eine hellbraune Försterjacke, und obwohl Jesse es um keinen Preis zugegeben hätte, konnte er durchaus verstehen, dass eine Frau Dillards kantiges Kinn und sein schroffes Äußeres attraktiv finden mochte. Wie ein Fels, dachte Jesse. Er sieht aus wie einer von jenen Männern, auf die Verlass ist.
»Jesse«, flüsterte Linda mit drängender Stimme. »Bitte mach keinen Ärger. Geh einfach. Bitte.«
Jesse gefiel das alles ganz und gar nicht. Linda wirkte nicht bloß verärgert, sondern nervös, fast schon verängstigt. So hatte sie sich in seiner Gegenwart noch nie verhalten.
Dillards stahlgraue Augen waren fest auf Jesse gerichtet, und er schob seine Jacke gerade weit genug beiseite, damit man seine Dienstwaffe sehen konnte. »Genau der Mann, nach dem ich gesucht habe.«
»Er wollte gerade gehen«, rief Linda und fügte leise an Jesse gewandt hinzu: »Jetzt hau schon ab. Bitte. Tu’s für mich.« Sie versetzte ihm einen Stoß.
Jesse ging die Stufen hinab und über die Auffahrt zu seinem Lieferwagen.
Dillards eisiger Blick folgte ihm die ganze Zeit. »Hättest du einen Moment Zeit, Jesse? Ich muss mal kurz mit dir reden. Linda, geh doch bitte schon mal rein, damit wir Männer unter uns sind.«
Linda zögerte.
»Na los, sei ein braves Mädchen.«
»Dillard, ich dachte mir nur, dass wir vielleicht …«
»Linda«, sagte Dillard mit einem Anflug von Ungeduld. »Du solltest jetzt besser auf der Stelle reingehen.«
Linda biss sich auf die Unterlippe und warf Jesse einen letzten flehenden Blick zu. Er fragte sich, was hier los war. Die Linda, die er kannte, hätte sich von keinem Mann derart einschüchtern lassen. War das dieselbe Linda, mit der er die Kneipen in der Gegend aufgemischt hatte? Dieselbe Frau, die vor seinen Augen einem Mann eine runtergehauen hatte, weil er ihr an den Hintern gefasst hatte?
Dillard ging lässig um den Streifenwagen herum auf Jesse zu, blieb direkt vor ihm stehen und musterte ihn von oben bis unten. »Ich habe gehört, dass es letzte Nacht bei dir zu Hause ein bisschen Ärger gegeben hat.«
Jesse antwortete nicht.
»Weißt du etwas darüber? Vielleicht hast du ja was gehört? Oder was gesehen?«
»Ja, das habe ich. Ich habe sogar alles gesehen. Der Weihnachtsmann ist mit seinen Rentieren gelandet und wurde von sechs Teufeln angegriffen. Dann sind sie in den Himmel
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