Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport
Aus allen Ecken prasselten Prügel auf Vilmar ein, meist von denen, die ihn nicht verstanden hatten. Mir fehlt ein Bruchteil dieser Empörung; wir bräuchten sie jetzt, denn bis heute hat sich die von Vilmar angeprangerte Schieflage auch nicht ansatzweise verbessert. Im Gegenteil.
Aussage einer Krankenschwester: »Schlimm, wenn man mit Angst zur Arbeit geht, mit dem Gedanken: Hoffentlich überleben die Patienten meine Schicht.« Mein Kommentar: Ein restlos überfordertes Pflegepersonal, das unter den psychischen und physischen Folgen der Mittelumverteilung im Gesundheitswesen leidet, wird selbst krank gemacht.
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3 . Chronisch Kranke
»Die Wunde sieht doch gut aus!«
M anuelas dramatische Leidensgeschichte wäre einen Roman wert, noch besser, einen abendfüllenden Kinofilm. Auch wenn ich mich auf das Wichtigste beschränke, ist der Kampf der jungen Frau so unglaublich, dass man meint, er sei den krausen Hirnwindungen eines Drehbuchautors entsprungen. In Manuelas Schicksal spiegelt sich der tägliche Wahnsinn dieses Gesundheitswesens, das kranke Menschen pauschalisiert und marginalisiert, während orwellartige Vorgaben rücksichtslos und ohne Blick auf die Folgen für den Patienten durchgezogen werden.
Seit dem 11. April 2007 weiß Manuela – sie ist heute 34 Jahre alt –, wie ihre Krankheit, die sie seit Jahren hat, heisst: Akne inversa. Das ist eine seltene Hauterkrankung: häufig wiederkommende Abszesse, hauptsächlich unter der Brust, in den Achseln, in der Leistengegend, den Innenfalten der Oberschenkel, im Intimbereich und am Gesäß. Die Talgdrüsenerkrankung begann bei ihr mit 17 Jahren; immer wieder tauchte ein neuer Abszess auf. Das wiederholte Auftreten der Entzündungen war ihr überaus unangenehm, und sie traute sich nicht zum Arzt zu gehen. Als die Schmerzen aber unerträglich wurden, ging sie zum Frauenarzt, der sie umgehend in eine Klinik zur Spaltung des Abszesses überwies. In der Klinik wurde der Abszess aufgeschnitten.
Was passiert in der oberen Hautschicht? Soweit die Medizin weiß, findet in der Talgdrüse eine Störung statt. Normalerweise produziert sie Talg. Er schützt die oberste Hautschicht vor Krankheitserregern und Chemikalien; er lässt Wasser abperlen und macht Haut und Haare geschmeidig. Plötzlich füllt sich die Drüse mit Hornmaterial und verändert den Kanal, in dem Talg auf die Haut gelangt. Nun füllen sich Talgdrüsen und Haarwurzeln mit Horn, das keine Infektionen mehr verhindern kann. Bakterien dringen ein und greifen die Drüse an. Sie entzündet sich und bildet Eiter. Die Talgdrüse platzt, die Infektion breitet sich im umliegenden Gewebe aus und befällt auch die Schweißdrüsen. Schmerzhafte Geschwüre, Abszesse und Fisteln entstehen.
Damals hegte Manuela natürlich die Hoffnung, es handle sich um einen einmaligen Eingriff, und alles werde gut sein. Kurze Zeit später jedoch kehrten sie zurück – die Abszesse und die Schmerzen. Manuela versuchte ihr Leiden mit Zugsalbe und Kamillenbädern in den Griff zu bekommen. Aber nichts half. Niemand konnte ihr sagen, weshalb sich auf ihrer Haut immer wieder Abszesse bildeten. Die Eingriffe im Krankenhaus wurden für sie zur Routine. Kein Arzt, den sie fragte, konnte ihr genau erklären, weshalb diese »Dinger« (wie Manuela sagt) immer wiederkommen. Eine Zeitlang schob sie es auf ihre Blutzuckerschwankungen, stellte ihre eigene Diagnose, weil niemand ihre Fragen nachvollziehbar beantworten konnte. Doch nach und nach tauchten Abszesse an anderen Stellen auf, nicht nur im Intimbereich, sondern auch an den Oberschenkelinnenseiten und unter den Achseln.
Ihr soziales Umfeld brach durch das mysteriöse Leiden Stück für Stück weg. Ihre Entzündungen waren ihr unendlich peinlich. Obwohl man sie von außen nicht wahrnimmt, musste sie immer darum kämpfen, Ausreden für ihr »Nein, ich kann heute nicht mit« zu finden. Sie kapselte sich zunehmend ab, und ihr Leben drehte sich nur noch um diese rätselhafte Krankheit. Dann ein Lichtblick, als sie 1994 schwanger wurde. »Die Beulen gaben Ruhe. Es war herrlich!«, erzählt sie mir. Dabei sitzt sie mir im Rollstuhl gegenüber.
Manuela ist gezeichnet von einer jahrelangen Irrfahrt von Arzt zu Arzt, von einem Klinikaufenthalt zum anderen, gezeichnet auch von dem Dauerzustand, dass sie ständig als Bittstellerin bei der Krankenkasse vorsprechen musste. 1995 kam ihr erster Sohn auf die Welt. Heute noch spricht sie von dem tollen Gefühl, als die Hebamme ihr den Kleinen in den
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