Kraut und Rübchen - Landkrimi
rückte den Stuhl näher heran.
Die erste Seite war bis auf einige Flecken leer. Behutsam nahm ich das Papier zwischen Daumen und Zeigefinger, hielt den Buchrücken mit der Rechten fest und blätterte die Seiten im Schnelldurchgang durch. Zeichnungen von Pflanzen, Listen und, wie es schien, Rezepte wechselten sich mit längeren Textpassagen ab. Was war das für ein Buch? Ein Tagebuch? Eine Niederschrift? Das Datum über der ersten beschriebenen Seite lautete 13. März 1898.
Der Gevatter wartet auf mich. Ich habe ihn durch das Zimmer schleichen hören, auch wenn ich ihn in seinem dunklen Umhang noch nicht sehen kann. Ich habe ihn hereingebeten, ihn willkommen geheißen, aber noch tut er sich schwer, mich alte Frau mitzunehmen auf die Reise in sein Reich. Was mich dort erwartet? Ich weiß es nicht. Wenn ich dem Pfarrer oben in seiner Kanzel Glauben schenke, sollte ich die ewige Verdammnis fürchten und ewige Höllenqualen. Ich, die Todbringerin. Aber zählt nicht in Gottes Augen das Werk, das man auf Erden vollbringt? Doch wer bestückt die Waagschale? Was zählt?
Nichts, was ich tat, geschah aus Gier oder aus Habsucht. Nie handelte ich aus niederen Gründen. Ich habe geholfen, wo ich konnte. Habe meine Kunst und mein Können eingesetzt, um denen zu helfen, die in Not waren und meiner Hilfe bedurften. Wenn sie vor mir standen, grün und blau am Leib von den Schlägen, krank und dem Tode nahe, weil ihnen keine Ruhe gegönnt wurde, wie hätte ich mich da weigern können? Ein Tod ist immer ein Tod, sagt man. Aber wiegt der Tod des Bösen ebenso viel wie der des Gerechten? Der des Peinigers ebenso schwer wie der des Gepeinigten?
Die Kinder, Agnes’ Sohn Johannes und meine Tochter Katharina, meine Kinder, führen den Hof und lassen mich auf dem Altenteil ruhen wie jemanden, dessen Lebenswerk vollbracht ist. Aber noch ist es nicht zu Ende. Noch wartet eine Pflicht auf mich, deren Schuldner sie ebenfalls sind, ohne es zu wissen. Für sie muss ich mich entscheiden, ob der Tod eines weiteren Menschen aus meiner Hand eine gute oder eine schlechte Tat sein wird. Und mich erinnern an die, die vorausgegangen sind. Vor ihrer Zeit von mir auf die Reise geschickt.
Ich lehnte mich zurück, starrte auf die aufgeschlagenen Seiten und konnte nicht glauben, was ich da las. »Der Tod eines weiteren Menschen aus meiner Hand« ließ darauf schließen, dass es zuvor schon andere gegeben haben musste. Der Satz »Vor ihrer Zeit von mir auf die Reise geschickt« schloss letzte Zweifel aus. Hielt ich hier das Tagebuch einer Mörderin in den Händen? Versteckt und wieder ans Tageslicht gekommen durch einen Zufall? Ich stand auf, öffnete einige Schränke, bis ich die Tassen und kleine Dosen mit Teekräutern fand, und kochte mir einen Kamillentee. Herrn Hoppenstedts Fressen stellte ich vor die Anrichte im Flur, ging wieder zum Buch und setzte mich.
Alles hat irgendwann einen Anfang, der in der Rückschau klarer wird, je weiter man sich davon entfernt. Wenn ich es aufschreiben, es ordnen und mich erinnern will, muss ich mit dem Tag beginnen, der wie ein Leuchtfeuer durch die Nebel der Jahrzehnte scheint. Den ich nicht vergessen kann, nicht vergessen darf und nicht vergessen will.
Der Gutsherr war vor vier Monaten im April gestorben. Er hatte lange krank gelegen. Seine Frau Agnes und ich wechselten uns an seinem Lager ab. Pflegten und wuschen ihn. Brachten ihm das Essen und die Neuigkeiten vom Gut. Er fühlte sich immer schwächer.
Von Kindesbeinen an hatte ich zugehört, gefragt und gelernt, was über die Kräuter und die wilden Pflanzen zu lernen war. Von den alten Mägden. Von den Frauen, die wussten, welches Kraut heilte und welches Verderben brachte. Ich hatte mein Wissen gesammelt, geprobt und vervollkommnet. Doch keines meiner Kräuter half ihm mehr, nur die Schmerzen konnte ich ihm lindern. Die Krankheit zehrte und fraß an dem stattlichen Mann, bis nichts mehr übrig blieb, aber er wollte es nicht wahrhaben. Sein Tod kam schwer über ihn und alle, die dabeisaßen und für ihn beteten.
Nach der Beerdigung hatte die Witwe seine Stelle angetreten, war Gutsherrin geworden, gab Anweisungen, lenkte die Knechte und Mägde. Ein großer Teil der Ernte war bereits eingefahren, die Scheunen waren voll.
Manchmal sah ich Agnes weinen. Um den Mann und um ihr Schicksal. Dann ging ich zu ihr und tröstete sie. Sie nahm den Trost an, obwohl ich nur ihre junge Magd war.
Meine Kenntnis über die Kräuter und ihre Heilkräfte hatte sich im Dorf
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