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Kreuzberg

Kreuzberg

Titel: Kreuzberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver G. Wachlin
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offenbar zuvor pyramidenartig auf den Esstisch gestellt hatte, um
sich an der hohen Zimmerdecke besser aufknüpfen zu können, lagen auf dem Boden
herum.
    »Krankenwagen«,
schrie Hünerbein und kletterte ebenfalls auf den Esstisch, »wir brauchen sofort
einen Krankenwagen!«
    Er hob sich
den Blumenhändler auf die Schultern, um den Strick zu entlasten, aber es
reichte nicht. Vier Meter zwanzig Raumhöhe waren in Berlin nichts
Ungewöhnliches. Zumindest nicht im ersten Stock. In der sogenannten Beletage
repräsentativer Altbauten konnten die Räume sogar sechs Meter hoch sein. Dazu
Stuck, Parkett, Flügeltüren – normalerweise rissen sich die Mieter darum,
doch jetzt war es ein Fluch. Hünerbein stand auf Zehenspitzen auf dem Tisch und
versuchte, den Blumenhändler zu halten, doch seine Kräfte erlahmten schnell. Er
fühlte sich wie der Namenlose im Sergio-Leone-Western »Spiel mir das Lied vom
Tod«. Er spürte seinen kalten Schweiß auf der Stirn und hörte die Musik von
Ennio Morricone. Charles Bronson spielte die Mundharmonika, und Henry Fonda
sprach mit rauer Stimme: »Keep your lovin’ brother
happy.«
    Dann brach
der Esstisch unter ihm zusammen. Hünerbein klammerte sich am Blumenhändler
fest, die halbe Zimmerdecke gab nach, sie fielen und wurden unter Putz und
Stucktrümmern und Gips begraben. Staub wirbelte auf. Als Letztes kam der Haken,
an dem das Seil festgemacht war, mit dem sich der Blumenhändler hatte erhängen
wollen, und knallte Hünerbein auf den Kopf.
    »Aua,
verdammt noch mal«, fluchte er völlig außer sich, »was machen Sie denn für
Sachen?«
    Hüseyin
röchelte erstickt.
    »So was
Beklopptes!« Hünerbein löste ihm den Strick vom Hals. »Warum«, schrie er
wütend, »warum, häh?«
    »Sie sind
weg!« Hüseyin Misirlioglu schnappte nach Luft. »Alle weg!«
    »Wer?«
    »Ayse. Und
die Jungs.« Der Blumenhändler krächzte und hielt sich den Hals. »Meine ganze
Familie.«
    »Lebt er
noch?« Die Nachbarin kam ins Zimmer gestolpert und griff sich erleichtert an
die Brust. »Na, Gott sei Dank! Krankenwagen kommt gleich.«
    »Bringen
Sie uns etwas Wasser.« Hünerbein stützte Hüseyins Kopf. »Geht’s?«
    Der
Blumenhändler nickte schwach. »Alle weg«, wiederholte er verzweifelt und zeigte
auf einen beschriebenen Briefbogen, der auf dem Sideboard an der Wand lag. »Sie
haben mich verlassen!«
    Hünerbein
wartete, bis die Nachbarin ein Glas Wasser gebracht hatte, und flößte es
Hüseyin vorsichtig ein. Dann erhob er sich und nahm den Brief von dem Board.
    Eine weiche
leicht nach rechts gekippte Frauenschrift. Unlesbar, weil türkisch. Lediglich
das letzte Wort machte für Hünerbein Sinn. Unterzeichnet war der Brief mit »Ayse«.
    Tja, da
hatte sie ihrem untreuen Gatten wohl mit knappen Worten die Trennung erklärt.
    Fünfzehn
Minuten später waren die Rettungssanitäter da und kümmerten sich um den
Blumenhändler.
    »Wir
bringen ihn ins Urban-Krankenhaus.«
    »Tun Sie
das.«
    Hünerbein
wartete, bis sie ihn mit einer Bahre aus der Wohnung getragen hatten, und griff
dann zum Telefonbuch. Er fand »Het Paradijs Reizen« nicht sofort, da es nicht
unter Reisebüros, sondern unter -veranstaltern gelistet war. Nach dem dritten
Klingeln nahm Sylvie de Groot ab.
    »Het
Paradijs Reizen, was kann ich für Sie tun?«
    »Hünerbein
hier, von der Kripo, vielleicht erinnern Sie sich: Ich war gestern bei Ihnen.«
    »Ja, der
dicke Mann, der die Trennkostreise nicht buchen wollte.«
    »Und sich
über Hüseyin Misirlioglu erkundigt hat, richtig.« Hünerbein suchte in seinem
Trenchcoat nach den Roth-Händle-Zigaretten. Eigentlich wollte er nicht mehr
rauchen, aber für dringende Fälle hatte er immer noch ein Päckchen dabei. Und
wer lebensmüde Blumenhändler in letzter Minute vor dem Tod gerettet hat, darf
sich auch eine anstecken.
    »Frau de
Groot«, begann er, »Sie hatten mir erzählt, dass die Frau des Blumenhändlers
die geplante Reise ihres Mannes nach Mauritius gegen vier Flugtickets nach
London umgetauscht hat.«
    »Ja, das
ist richtig.«
    »Ich würde
gerne wissen, für wann die Flüge gebucht worden sind. Datum, Uhrzeit et
cetera.«
    »Moment, da
muss ich nachschauen.«
    Hünerbein
wartete und sah den Rauchkringeln seiner Zigarette nach.
    »Hören
Sie?« Sylvie de Groot war wieder am Apparat.
    »Bin ganz
Ohr.«
    »Der
Flieger geht am 20. August, also heute. Um vierzehn Uhr dreißig ab Tegel,
Flugsteig A 7.«
    »Ich danke
Ihnen.« Hünerbein legte auf und sah auf die Uhr.
    Vierzehn
Uhr zwo. Er

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