Kreuzdame - Köln Krimi
jemand erfuhr. Ich lief bis zum Waldrand, blieb an der Pferdekoppel stehen und starrte auf die großen Tiere. Ich hätte gern gewusst, was in ihren Köpfen vorging und was sie fühlten.
Wie viel darf ein Mensch sich erlauben? Warum war Klaus zu weit gegangen? Hatte er sich selbst so hoch geschraubt, dass er die Bodenhaftung verlor? Warum war ihm so viel daran gelegen, uns, seine Freunde, die er, wie er selbst in seinem Testament betont hatte, immer geliebt und gemocht hatte, so zu betrügen? Um sich selbst zu beweisen, wie gut er war? Um sich seiner Größe zu vergewissern, im Gegensatz zu unserem Klein-Klein? War es das, was ihn angetrieben hatte?
Als ich an der Kirche vorbeikam, öffnete ich die Tür und ging hinein, ich setzte mich in eine Bank und sah nach vorn zum Altar, über dem der gekreuzigte Christus hing. Aus der Sakristei kam ein Geistlicher, bereitete die Messe vor, einer, dessen linker Arm schlaff herabhing, der ihn für jede Handlung mit der rechten heraufholen musste. Hätte Klaus so etwas reparieren können? Und das wäre erst der Anfang gewesen, hatte Anna gesagt, der Anfang von was?
Martin kam an diesem Abend früher nach Hause. Er sah erschöpft aus, und ich wünschte, ich könnte ihm das Leben erleichtern.
»Es genügt, wenn du da bist am Abend«, sagte er mit müder Stimme. »Ich sitze viel zu viel am Schreibtisch. Zum Arztsein fehlt mir die Zeit und allmählich auch die Kraft. Ich fürchte, eines Tages werde ich zu keiner Diagnose mehr fähig sein und zu keiner Therapieempfehlung.«
Was sollte ich darauf erwidern? Dass er vielleicht besser Oberarzt geblieben wäre? Oder eine eigene Praxis gegründet hätte, mit einem eigenen Patientenstamm, den er betreuen könnte. Doch ich schwieg und dachte wieder an Anna und Klaus. Ich hätte Martin gern alles erzählt, aber ich hatte Anna versprochen, ihre Geschichte für mich zu behalten. Kein Wort zu niemand.
NEUN
An Heiligabend rief ich morgens bei Anna an. Sie meldete sich sehr leise, und ich fragte, ob sie sich nicht wohlfühle.
»Doch, doch«, antwortete sie, »nur so schrecklich müde.«
»Hast du Lust, am Abend zu uns zu kommen? Timo ist auch da, und Martin und ich dachten, du als seine Mutter gehörst doch dazu.«
»Schade«, sagte Anna, »wenn du gesagt hättest ›als Freundin‹, wäre ich vielleicht gekommen. Aber so, wenn du mich aus Pflichtgefühl einlädst, nein, danke. Ich bleibe allein, das ist besser so.«
Sie legte auf, und so oft ich es auch versuchte an diesem Vormittag, sie ging nicht mehr ans Telefon. Am Nachmittag, als der Baum geschmückt, der Tisch gedeckt und alles für das Fondue vorbereitet war, fuhr ich zu ihr. Unsere kleinen Straßen waren spiegelglatt, aber auf den Hauptstraßen hatten sie gestreut, und so musste ich erst auf der Lindenallee wieder runter vom Gas und im Schritttempo bis zu Annas Haus fahren.
Es brannte Licht, und ich hoffte, sie würde auf mein Klingeln reagieren. Lange Zeit rührte sich nichts, dann ging im ersten Stock ein Fenster auf. Annas Stimme klang wie aus einer anderen Welt.
»Danke, Britta, dass du dir die Mühe machst, wenn auch vergebens. Ich bleibe hier. Und mach dir keine Sorgen. Ich werde auch das überleben. Ich melde mich nach Weihnachten, versprochen.«
Das Fenster wurde so schnell geschlossen, dass ich nichts erwidern konnte.
Ich fuhr wieder heim. Hatte ich alles versucht? Und hatte sie tatsächlich nur meine unbeholfene Formulierung abgeschreckt?
Die Kinder waren längst da, auch unsere Jüngste. »Coming home for Christmas« , rief sie lachend und fiel mir in die Arme, als ich zur Tür hereinkam. Sie plapperten durchs Haus, hatten ihre Räume eingenommen, als wären sie nie weg gewesen, und als ich ihr Lachen hörte, wurde mein Herz wieder froh. Dies war mein Leben. Ich hatte einen Mann und vier Kinder und jetzt noch einen neuen Sohn. Ich war der Mittelpunkt dieser Familie und würde es hoffentlich noch lange bleiben.
Bei der Christvesper in unserer Gemeinde betete ich für Anna und hoffte, sie würde ihren Frieden finden. Ihr Leben war so anders verlaufen als meins, und das, obwohl uns in der Schulzeit so viel verbunden hatte, damals, als weder ihr noch mein Zuhause im richtigen Viertel gewesen war und nicht über eine edle Ausstattung wie bei Karin oder Charlotte verfügt hatte. Und ich betete darum, dass diese Geschichte bald ein Ende haben würde. Ich wollte wissen, wie es weitergegangen war. Warum eigentlich? Warum wollte ich das Ende hören? Diese Frage ließ sich
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