Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
Zwielicht durchschneiden. Die leere Schachtel fest umfassend, bewegte sie sich hölzern durch den Gemeinschaftsraum zu seinem Schlafzimmer.
Als sie seine Tür öffnete und das Licht einschaltete, überkamen die Erinnerungen sie so heftig, dass sie rückwärts schwankte. Die Schachtel entglitt ihren Fingern und fiel mit einem dumpfen Dröhnen auf den Boden.
Tränen nahmen ihr die Sicht. Mit einem winzigen, schluckenden Geräusch des Kummers bewegte sie sich wie betäubt in dem kleinen Schlafzimmer, berührte Dinge - Fotos, Bücher, die Lieblingsbaseballmütze, die er samstags trug. Der Rosenkranz lag ordentlich auf seiner Bibel.
Sie sah ein Bild auf der Kommode und ergriff es, ließ ihre Finger über die kalte Oberfläche des Glases gleiten. Es zeigte sie und Francis an dem Tag, an dem sie Lina aus dem Krankenhaus heimgebracht hatten. Sie lächelten, aber in ihren Augen war solche Sorge, solche erwachsenen Ängste in diesen Gesichtern Heranwachsender...
He, Maddy-Mädchen, du bist auf der falschen Seite der Stadt.
»Oh, Francis ...« Sie zog sein Kissen vom Bett und glättete die zerknitterte Baumwolle mit den Händen. Die Star Wars- Laken, die sie ihm letzte Weihnacht aus Jux geschenkt hatte.
Sie hatte Angel gesagt, dass sie lernen müssten, ohne Francis zu leben - aber wie sollte sie das tun? Wie konnte man ohne den Sonnenschein auf dem Gesicht leben?
Die Tränen kamen wieder; brennend und heiß, und sie ergab sich ihnen. Sie sank langsam auf ihre Knie und schluchzte in das Kissen, das nach ihrem besten Freund auf der Welt roch.
Kapitel 19
Lina starrte auf die glasige Oberfläche des Lake Union. Ein riesiger schwarzer Schatten glitt über das flache Wasser. Er erinnerte sie an das Monster, das hinter den Jalousientüren ihres Schrankes gelebt hatte, als sie ein kleines Mädchen war. Francis und ihre Mom hatten ihr erzählt, dass das Monster nur in ihrer Phantasie existiere, und sie hatte ihnen meistens geglaubt. Aber in manchen Nächten, wenn es draußen besonders dunkel war und Regen wie Salz in den Lichtkreis der Straßenlaterne vor ihrem Schlafzimmerfenster rieselte, hatte sie gewusst, dass das Monster nicht nur in ihrem Gehirn existierte. Sie hatte gehört, wie es sich bewegte, raschelte, an ihren Metallkleiderbügeln kratzte.
Als sie zwölf war, fing sie an zu begreifen, dass, was immer in dem Schrank leben mochte, ein Teil von ihr war. Sie spürte es in sich, wenn es sich dann und wann bewegte, seinen hässlichen Kopf mit einer Art formloser, wortloser Unzufriedenheit zurückwarf, die ihre Wahrnehmungen, ihre Träume und ihre Alpträume durchdrang. Es war eine Einsamkeit, die weder unzählige Monopolyspiele im Familienkreis oder Ferien in Disneyland ausfüllen konnten.
In ihrem dreizehnten Lebensjahr hatte es mit einigen wenigen schlimmen Nächten angefangen und sich zu schlimmen Wochen weiterentwickelt, als sie fünfzehn war. Sie erinnerte sich allzu gut an den Anfang - er war mit ihrer ersten Periode zusammengefallen, und gleich, wie viele Bücher ihre Mutter ihr gezeigt hatte, egal, wie viele Fotos von Gebärmüttern und Eierstöcken Lina gesehen hatte, sie kannte die Wahrheit. Das Gute blutete aus ihr heraus, hinterließ seine bräunlichen Flecken in ihrer Unterwäsche. Nachdem sie zu bluten begonnen hatte, hatten die schlaflosen Nächte angefangen. Mal weinte sie ohne ersichtlichen Grund, bekam dann wieder Wutausbrüche von so plötzlicher Heftigkeit, dass sie anschließend zitterte. Wenn sie in dieser schlechten Stimmung war, regte sie alles auf. Besonders ihre Mutter.
Aber so schlimm war es nie zuvor gewesen. Die Unzufriedenheit und Unglücklichkeit war immer gekommen und gegangen, Augenblicke, die sie auf irgendeinen Weg gebracht hatten und dann irgendwo stehen ließen, wo sie nicht wirklich sein wollte.
Jetzt wollte es einfach nicht von ihr lassen. Die Schwärze saß auf ihrer Brust und erfüllte ihren Mund mit einem bitteren Geschmack. Sie hüllte sich um Worte, die zu sagen sie nie eine Chance gehabt hatte - lebe wohl, ich liebe dich, es tut mir Leid.
Ohne Francis fühlte Lina sich verloren und allein. So allein, dass sie manchmal mitten in der Nacht aufwachte, unfähig zu atmen, unfähig sogar zu weinen. Sie wollte mit ihrem Fahrrad zum Pfarrhaus fahren, bis ihr dann einfiel, dass er nicht dort war.
Sie zerbrach förmlich. Nichts befriedigte sie oder machte sie glücklich und sie schien sich nicht einmal auf die einfachsten Dinge konzentrieren zu können. Alles, was sie fühlte, war
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