Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
scheint über die Auffahrt zu ihm zu schweben, ihr Kopf ist zu Angel geneigt und ihr wunderschönes Gesicht in goldenes Licht getaucht.
Ihm wird ganz plötzlich bewusst, dass sie beide jung und glücklich aussehen. Genau so hatten sie sich immer angesehen, auf eine Art, wie sie ihn nie angesehen hatte.
Seltsamerweise erfüllt ihn dieses Wissen mit Wärme, gibt ihm das Gefühl, so leicht zu sein, dass er von der Verandaschaukel fortschweben kann. Ein prickelndes Gefühl durchströmt ihn - diesmal glaubt er fast, dass es wirklich ist. Es beginnt in seinen Zehen und fließt langsam nach oben. Es ist ein Gefühl, als ströme reines, glühendes Sonnenlicht durch seine Adern, illuminiere ihn von innen. Er bekommt ein fast trunkenes Gefühl von Schwerelosigkeit.
Er erwartet, fortzutreiben, und als das nicht geschieht, blickt er nach unten und sieht, dass mehr von ihm verschwunden ist. Von der Hüfte abwärts ist er nichts als ein Schatten, der aus Schatten dringt.
Es überrascht und verwirrt ihn, dieses langsame Verschwinden seines Körpers, aber es macht ihm keine Angst. Es scheint... richtig so.
Als er wieder aufschaut, sieht er, dass Madelaine neben ihm auf der Veranda ist. Er kann den gedämpften Klang ihrer Stimme hören, während sie mit seinem Bruder spricht, obwohl er ihre Worte nicht versteht. Angels Antwort kommt mit einem summenden Geräusch, das dem Flüstern der Bäume nicht unähnlich ist.
Er möchte nahe bei ihnen sein, mit einer Hand winken und sagen: Ich bin hier, seht mich doch.
Sie öffnet die Tür und schaltet die Verandabeleuchtung ein und dort, in dem goldenen Schimmer, sieht er einen Schatten neben ihnen stehen.
Irgendwie weiß er, dass dies der Schatten des Mannes ist, der er einmal war. Hypnotisiert beobachtet er, wie er selbst in den Schatten seines Bruders schlüpft und dort bleibt, so nah, dass er sie berühren kann.
Es ist ein gutes Gefühl, scheint richtig zu sein, hier, im Schatten seines Bruders zu sein, ein Teil von Angel und doch getrennt. Er spürt, wie er sich entspannt, sich auf der Verandaschaukel zurücklehnt. Ein erleichterter Seufzer kommt über seine Lippen und bei diesem Geräusch schlägt ein Vogel mit seinen Flügeln und stürzt sich von dem Apfelbaum in den Vorgarten.
Er weiß endlich, worauf er gewartet hat, und das Warten ist fast vorüber.
Lina blickte zum Himmel auf und hatte das Gefühl, als ob sich ihr eine ganz neue Welt eröffnet habe. Warum das so war, wusste sie nicht genau. Es war derselbe alte Nachthimmel, den sie gesehen hatte, seit sie ein Kind war, dieselben alten Sterne. Aber an diesem Abend nahm sie sie auf eine Art wahr wie nie zuvor. Die Milchstraße war ein verschmierter Strich von grauweißem Licht, betupft mit glitzernden Sternen. Während sie dort lag, nach oben starrte, schoss ein Stern über den Himmel und hinterließ eine funkelnde Spur von Licht, bevor er verschwand.
»Wünsch dir was«, sagte Zach.
Lina lächelte. Jett hätte so etwas Altmodisches niemals gesagt. Doch während sie die Unsinnigkeit dieser Feststellung bemerkte, erwärmte sie etwas daran. Je mehr sie darüber nachdachte, desto ulkiger und komischer wurde es, fast ein Spiel.
Sie rollte sich auf die Seite und musterte ihn. Er lag ausgestreckt neben ihr, die Arme hinter den Kopf verschränkt. Sandblondes Haar umrahmte sein Gesicht. Sie sah das Sternenlicht, das von seinen Augen reflektiert wurde, und dachte verträumt, dass das passend sei - denn er war es, der ihr den Zauber eines Nachthimmels gezeigt hatte.
Er wandte sich zu ihr und schenkte ihr ein breites, schläfriges Lächeln. »Hast du dir etwas gewünscht?«
Daraufhin hätte sie ihn fast berührt, aber er hatte ihr gegenüber nie eine Andeutung gemacht, dass er das wollte. Sie hatten die letzten beiden Wochen zusammen verbracht - gemeinsam Mittag gegessen, auf dem Pausengang herumgehangen, auf den Bus gewartet. Sie sprachen über alles. Darüber, wie einsam man sich manchmal fühlte, wenn man sechzehn war, und darüber, dass Erwachsene einen kaum verstanden. Es war Zach, der Lina zuerst dazu brachte, über ihre Gefühle für ihre Mutter nachzudenken. Er hatte das ganz locker gesagt, an einem Abend genau wie diesem, als sie auf der Tribüne an der 20-Yard-Linie gesessen hatten. Sie hatte nicht geglaubt, dass er ihre Ansichten ändern wollte. Er hatte nur geredet und sie hatte einfach zugehört...
»Ich erinnere mich, wie's war, als das Krankenhaus anrief«, hatte er gesagt und sich an einen der Sitze hinter
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