Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
Aufdringlichkeit, die Unzufriedenheit, der Zorn - dies alles waren Persönlichkeitsmerkmale, die sie von ihm haben musste, sein lebendes Vermächtnis sein mussten.
Sie erinnerte sich ständig an ihre Frage. Bin ich wie er?
Und an das traurige Lächeln ihrer Mutter, als sie sich erinnerte, das Lächeln, das Lina von ihrem Geburtsrecht ausschloss, von den Erinnerungen, die ihr hätten gehören sollen. Du bist genau wie er.
Ihre Phantasien verselbständigten sich wieder, fingen sie in einem seidenen Netz. Sie waren gleich, sie und ihr Daddy -ihre Mom hatte das gesagt. Sie war wie ihr Vater. Sie würden mehr sein als nur Vater und Tochter. Sie würden die besten Freunde sein. Ihr Vater würde sie nicht belügen oder maßregeln. Er würde nicht stundenlang arbeiten und völlig ermüdet nach Hause kommen oder sich darum kümmern, ob sie ihre Hausaufgaben pünktlich gemacht hatte.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort gesessen und von ihm geträumt hatte. Aber doch so lange, dass ihre Tränen trocknen konnten, so lange, dass aus ihrer tiefen Traurigkeit Ärger wurde. Ihre Mutter hatte kein Recht, ihr diese Information vorzuenthalten. Nicht diese.
Müde und deprimiert stand sie auf und trat aus den Büschen.
Dort war der Laden. Sie wollte sich abwenden, einfach heimgehen und nachdenken, aber der Laden war so nahe.
Sie brauchte diesen Adrenalinstoß, der kam, wenn sie alle anderen überlistete. Mit einem schnellen Blick in beide Richtungen schwang sie ihre Tasche wieder über eine Schulter und strebte dem Geschäft zu, ging über den breiten, von Azaleen gesäumten Zementweg.
Die doppelten Glastüren wichen in einer elektronischen Begrüßung beiseite. Sie tauchte in die gleißenden Lichter des Superdrugstores, fand sich herrlich auffällig. Ein Punkkind in schäbigen Klamotten im Yuppiehimmel.
Sie grinste, wusste, dass man sie beobachtete, sie einschätzte, die Hausdetektive auf sie aufmerksam machte. Sie ging wie üblich vor. Zuerst kaufte sie eine Zeitung. Es machte einen guten Eindruck, gleich am Anfang Geld auszugeben. Sie steckte zwei Quarter-Münzen in den Schlitz und öffnete die Klappe des Zeitungskastens, zog die neueste Ausgabe der kleinen Lokalzeitung heraus. Sie klemmte sie unter einen Arm, schlenderte dann den Hauptgang entlang, bog ab und ging in die Make-up-Abteilung. Sie fasste alles an, was sie interessierte, wog es ab, fühlte, ob es in ihre Handfläche passte. Sie suchte.
Sie berührte ein Dutzend Dinge, stellte alle wieder an ihren richtigen Platz zurück.
Dann sah sie es, berührte es, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Erregung löste ein schnelles, verstohlenes Lächeln aus.
Eine kleine Tube Wimperntusche in einer Klarsichtpackung aus Kunststoff.
Lina schaute sich verstohlen um, sah niemand. Ihr Herzschlag beschleunigte sich noch mehr. Ihr Herz begann in ihrer Brust zu donnern. Feuchter, juckender Schweiß nässte ihre Handflächen. Das erste nagende Gefühl von Furcht schlich sich in sie, murmelte, dass sie es nicht tun könne, dass sie nicht gut genug dazu sei.
Dann kamen die anderen Emotionen - das anmaßende Selbstvertrauen, das sie nur in dem hell erleuchteten Gang eines Drugstores finden konnte, der pulsbeschleunigende Adrenalinstoß.
Du kannst es doch tun, oder?
Sie spazierte eine Weile herum, hielt das Mascara wie zufällig. Ihre Finger waren so glatt vom Schweiß, dass sie es dreimal oder viermal von einer Hand in die andere wechseln musste. Ein oder zwei Mal tat sie, als würde sie das Mascara in die Regale zurückstellen - einmal in das mit den Deodorants, einmal in das mit dem Aspirin.
Im Gang, wo die Zahnpasta stand, handelte sie dann.
Sie steckte das Make-up in ihre Tasche und zog die Hand heraus.
Sie hatte es getan.
Schwer atmend und mit klopfendem Herzen zwang sie sich, gemächlich durch das Geschäft zu schlendern. Sie blieb vor den Videos stehen, blätterte ein paar Horrorbücher durch. Die Magazine weckten ihr Interesse und so stand sie da und blätterte in der neuesten Ausgabe des Rollling Stone.
Dann spazierte sie sehr ruhig den Gang hinunter, an der Kasse vorbei und auf die Tür zu. Mit einem schnellen Blick zur Seite sah sie, dass sie allein war. Ein Grinsen breitete sich über ihr Gesicht, als die Automatiktüren sich mit einem Zischen öffneten.
In der allerletzten Sekunde packte eine Hand ihre Schulter und drückte sie sehr fest. Eine laute Männerstimme sagte: »Augenblick mal, Miss.«
Kapitel 9
Francis ging langsam über den gesprungenen Steinweg,
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