Kristin Lavranstochter 1
auf Jörundhof zu leben, und so geschah es, daß wir von Skog wegzogen. Nun aber kannst du dir wohl denken, daß ich nicht mehr hier wohnen mag, seit Lavrans fort ist.“
Ragnfrid brachte der Mutter das Kind und legte es ihr an die Brust. Sie nahm die seidene Decke weg, die man während des Tages über Kristins Bett gebreitet hatte, faltete sie zusammen und legte sie beiseite. Dann stand sie eine Weile da und betrachtete die Tochter, berührte den dicken goldbraunen Zopf, der zwischen den weißen Brüsten lag.
„Dein Vater fragte mich so oft, ob dein Haar noch ebenso reich und schön sei. Es war ihm eine solche Freude, daß du über den vielen Kindern, die du bekamst, deine Schönheit nicht verlorst. Er freute sich so sehr über dich in den letzten Jahren, darüber, daß du eine so tüchtige Frau geworden warst und gesund und schön mit all den prächtigen kleinen Söhnen rings um dich dastandest.“
Kristin schluckte ein paarmal die Tränen hinunter.
„Zu mir, Mutter, sprach er oft davon, daß Ihr die beste Gattin gewesen seid - er sagte, ich sollte Euch dies erzählen“, sie schwieg verlegen, und Ragnfrid lachte leise.
„Lavrans hätte doch wissen können, daß er es nicht nötig hatte, mir von seinem Wohlwollen berichten zu lassen.“ Sie streichelte den Kopf des Kindes und die Hand der Tochter, die den Kleinen umfaßt hielt. „Aber vielleicht wollte er... Du darfst nicht glauben, meine Kristin, daß ich dir je die Liebe deines Vaters mißgönnt habe. Recht und begreiflich ist es, daß du ihn mehr geliebt hast, als du mich liebtest. Du warst ein so süßes und liebliches kleines Mädchen - ich erkannte es nicht genug an, daß Gott mich dich behalten ließ. Ich dachte stets mehr an das, was ich verloren hatte, als an das, was ich besaß.“
Ragnfrid setzte sich auf das Bett.
„Sie hatten andere Gebräuche auf Skog als daheim bei uns. Ich kann mich nicht entsinnen, daß mein Vater mich je geküßt hat - er küßte meine Mutter, als sie auf der Totenbahre lag. Mutter küßte Gudrun in der Messe, denn sie stand ihr am nächsten, dann küßte die Schwester mich - sonst pflegten wir bei uns nie so etwas zu tun.
Auf Skog war die Sitte anders; wenn wir von der Kirche heimkehrten und den Leib des Herrn empfangen hatten und daheim auf dem Hofplatz von den Pferden stiegen, da küßte Herr Björgulv seine Söhne und mich auf die Wange, wir aber küßten ihm die Hand. Danach küßten alle Eheleute einander, und dann gaben wir jedem vom Gesinde, der mit im Gottesdienst gewesen war, die Hand und wünschten uns gegenseitig, daß die Vereinigung mit dem Leib des Herrn Gnade bringen möge. Lavrans und Aasmund pflegten sehr häufig ihrem Vater die Hand zu küssen, wenn sie Gaben oder dergleichen von ihm erhielten. Wenn der Vater oder die Mutter hereinkamen, erhoben sich die Söhne stets und blieben stehen, bis sie gebeten wurden, sich zu setzen. Dies dünkten mich zuerst Narrenbräuche und ausländisches Wesen.
Später, in den Jahren, die ich mit deinem Vater zusammen lebte, als wir unsere Söhne verloren, und in all den Jahren, da wir so große Angst und Sorge um unsere Ulvhild erlitten, da war es gut für mich, daß Lavrans so erzogen worden war - zu milderen und liebevolleren Sitten.“
Nach einer Weile sagte Kristin leise:
„Vater hat also Sigurd nie gesehen?“
„Nein“, antwortete Ragnfrid, ebenso still. „Auch ich sah ihn nicht, solange er am Leben war.“
Kristin lag eine Weile still da, dann sagte sie:
„Trotzdem dünkt mich, Mutter, Ihr habt doch viel Gutes in Eurem Leben gehabt.“
Die Tränen begannen über Ragnfrid Ivarstochters bleiches Gesicht zu rinnen.
„Gott steh mir bei, ja. So dünkt es mich nun selbst.“
Kurz darauf nahm sie den Säugling, der jetzt eingeschlafen war, behutsam von der Brust der Mutter und legte ihn in die Wiege. Sie heftete Kristins Hemd mit der kleinen Schließe zusammen, fuhr der Tochter über die Wange und bat sie, jetzt zu schlafen. Kristin hob eine Hand.
„Mutter“, sagte sie bittend.
Ragnfrid beugte sich hinab, zog die Tochter an sich und küßte sie viele Male. Das hatte sie in all den Jahren, seit Ulvhild gestorben war, nicht mehr getan.
Als Kristin am nächsten Tag hinter der Ecke des Wohnhauses stand und zu den Hängen jenseits des Flusses hinübersah, war das schönste Frühjahrswetter. Es roch nach Wachstum, überall sang es von befreiten Bächen, über allen Hainen und auf den Wiesen lag ein grüner Hauch.
Dort, wo der Weg oberhalb
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