Krokodil im Nacken
gegenüber ihrer Insel, gleich neben der Abteibrücke, lagen zwei Ausflugs- und Tanzlokale: Zenner – für die reifere Jugend – und Plänterwald mit Fred Ries und seiner Combo – für die wirklich Jungen. Es verging kein Wochenende, an dem sie nicht dort antrabten, die fein gemachten Robinsons und Freitags von der Insel, die jedes Glas Bier, jede Schachtel Zigaretten im Kopf mitrechnen mussten, damit sie am Ende für sich und ihre erhoffte Eroberung auch bezahlen konnten. Kostengünstiger war es, sich im Sommer unter den tollkühnsten Verrenkungen von der Dampferanlegestelle der Weißen Flotte ins Wasser zu stürzen und von dem Kaffee trinkenden Publikum dafür Beifall zu ernten. Das waren ja nicht nur alles alte Kaffeetanten, die über sie staunten, auch viele Sonntagsschönheiten tranken dort ihre Brause. Darf ich bitten oder wollen wir erst tanzen, witzelten sie, hatte irgendeine Spreeprinzessin ihre Aufmerksamkeit erregt.
Auch auf der Insel, in dem hufeisenförmig angelegten, einstöckigen Gebäude, das auf den ersten Blick an einen Landgasthof erinnerte, weshalb immer wieder mal Ausflügler nachfragten, ob sie hier etwas zu trinken bekommen könnten, lebten vor allem Kriegswaisen und Flüchtlingskinder. Es waren aber auch Jungen darunter, die aus dem Jugendstrafvollzug entlassen worden waren und sich unter Heimleiter Seeler bewähren sollten. Diplomatenkinder oder Sprösslinge internationaler Widerstandskämpfer kamen hier nicht vor; die Insel war kein Vorzeigeheim, empfing keine Delegationen, beeindruckte keine Journalisten.
Manne hatte damit gerechnet, dass all die Lehrlinge und ungelernten Arbeiter, die hier lebten, den einzigen Noch-immer-Schüler Lenz skeptisch beäugen würden: Hielt der sich eventuell für was Besseres, nur weil er noch zur Schule ging und jede Menge dicke Bücher las?
Er hielt sich für nichts Besseres, im Gegenteil, er beneidete die Jungen, die bereits Geld verdienten. Das merkten sie ihm an, und weil er sich für sie und ihre Schicksale interessierte, akzeptierten sie ihn.
Es war Pinkerton, der von Papa Reiser den Auftrag erhalten hatte, Manne Lenz auf der Insel abzuliefern; ausgerechnet der Pionierleiter »Pinkerton«, ein schmales Männchen im ewig blauen Hemd, der Manne mal geraten hatte, im Falle einer Bewerbung nicht den kleinbürgerlichen Beruf der Mutter, sondern den des aus der Arbeiterklasse stammenden Vaters anzugeben. Nun durfte er ihn mit weisen Ermahnungen ins weitere Leben verabschieden. Er setzte mal wieder einen seiner Lenin-Blicke auf und sprach von jenem schönen, großen, guten Vertrauen, das nur durch Taten zu erwerben sei, das aber, hatte man es sich einmal erworben, auch einen Manfred Lenz zum wahren »Mitmenschen«, ja, eines Tages vielleicht sogar zum Genossen seiner Genossen machen konnte. Und bevor er ging, schüttelte er Manne die Hand, als sei der ein Soldat, den er in den Einsatz schickte.
Heimleiter Seeler hatte Pinkertons letzte Worte noch mitbekommen und, wie es Manne schien, spöttisch dazu gegrinst. Das hatte ihn hoffen lassen, dass es auf der Insel in mancherlei Hinsicht etwas lockerer zugehen könnte. Kaum aber saß er dem knorrig wirkenden, mittelgroßen Mann mit der knollenartigen Himmelfahrtsnase und den wachen grauen Augen im Heimleiterbüro gegenüber, wurde er enttäuscht. Der ehemalige Polizeimajor Werner Seeler, der zuletzt in Jena oder Gera seinen Dienst versehen hatte, hatte den Parteiauftrag erhalten, die Klein-Chikagoer Junggangster, die da so nahe der Grenze zwischen Ost und West aufwuchsen, zu klassenbewussten Jugendlichen umzuformen. Vor zwei Jahren, so erzählte er Manne bereits während dieses ersten Gesprächs, habe er die Heimleitung übernommen – von einem total überforderten Vorgänger, der froh war, die Flucht ergreifen zu dürfen. Einen Revolver habe er anfangs in seinem Schreibtisch liegen haben müssen, denn damals hätten einige Jugendliche noch versucht, mit Gewalt gegen ihn vorzugehen. Inzwischen habe er einen nach dem anderen zur Räson gebracht. Jetzt herrsche Ruhe und Frieden im Heim, alle gingen einer geregelten Arbeit nach und leisteten noch dazu jede Menge freiwillige Aufbaustunden. Klar, dass er sich diese neu geschaffene Ordnung von niemandem durcheinander bringen lassen würde, auch von einem Manfred Lenz nicht! Er sei sich aber sicher – und nun hob sich die Himmelfahrtsnase und der Mund ging in die Breite –, dass jeder, der nicht dumm war, im Lauf der Zeit schon erkennen würde, was gut für ihn
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